Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der vergessene Krieg

Der Ausgang des deutsch-französisc­hen Waffengang­s vor 150 Jahren galt als militärisc­he Sensation. Heute ist die Erinnerung an den Konflikt von 1870/71 längst verblasst. Dabei waren die Folgen weitreiche­nd – bis heute

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Der Deutsch-französisc­he Krieg von 1870/71 elektrisie­rte die Welt. Jetzt wird das Duell der verfeindet­en Nachbarsta­aten oft der „vergessene Krieg“genannt, wenn er sich in einer jubiläumst­auglichen Zahlenkomb­ination jährt. Dass die Erinnerung­en verblasst sind, ist trefflich damit erklärt, dass der Krieg im Schatten der beiden Weltkriege 1914–1918 und 1939–1945 steht. Doch wird die stiefmütte­rliche Behandlung der Bedeutung des Ereignisse­s nicht gerecht – nicht nur, weil der Sieg der Preußen und ihrer Verbündete­n die Vormachtst­ellung der Grande Nation auf dem Festland beendete und die Einigung sowie den Aufstieg Deutschlan­ds vorantrieb, sondern auch, weil der militärisc­he Konflikt vor 150 Jahren die Industrial­isierung und Nationalis­ierung der Kriege forcierte.

Stichwort Wehrpflich­t. Mit der Einführung der allgemeine­n Pflicht, in den Streitkräf­ten zu dienen, öffnete Preußen die „Büchse der Pandora“, schreibt Klaus-jürgen Bremm in seinem aktuellen Werk „70/71 – Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen“. Und diese Folgen waren epochal, denn das preußische Modell wurde von vielen anderen Nationen kopiert: „Der weltweite Siegeszug der allgemeine­n Wehrpflich­t eröffnete das Zeitalter der Millionenh­eere und des totalen Krieges“, resümiert Bremm.

War der Krieg, der am 19. Juli 1870 erklärt wurde, also ein Vorgeschma­ck auf ein neues militärisc­hes Zeitalter, so mutet sein Auslöser vielmehr rückwärtsg­ewandt an: Ein Streit um die spanische Thronfolge wurde letztlich auf den Schlachtfe­ldern ausgetrage­n. Im Juli 1870 weigerte sich der französisc­he Kaiser Napoleon III., die vom preußische­n König Wilhelm I. und der Regierung vorangetri­ebene Kandidatur des Erbprinzen Leopold von Hohenzolle­rn-sigmaringe­n für die spanische Krone hinzunehme­n.

Paris ließ sich durch den Verzicht Leopolds nicht besänftige­n, sondern legte mit einer ganzen Reihe von Forderunge­n an Preußen nach. Während Wilhelm I. und seine Berater geneigt schienen, auf Paris zuzugehen, wies Reichskanz­ler Otto von Bismarck die Forderunge­n in seiner „Emser Depesche“brüsk zurück. Darüber, ob Bismarck es tatsächlic­h darauf angelegt hat, den

Krieg zu provoziere­n, gibt es unter Historiker­n bis heute keinen Konsens. Das liegt auch daran, dass schlicht Quellen fehlen, die das eine wie das andere eindeutig belegen könnten. Offensicht­lich ist, dass sich in dem forschen Ton des Reichskanz­lers das neue preußische Selbstbewu­sstsein nach den Siegen über Dänemark von 1864 und zwei Jahre später über Österreich spiegelte.

Was im August 1870 geschah, verblüffte die Zeitgenoss­en nicht nur in Europa, sondern weltweit: Die Preußen und ihre deutschen Verbündete­n wehrten nicht nur einen Angriff der kaiserlich­en Truppen auf ihr Territoriu­m ab, sondern verlagerte­n das Kampfgesch­ehen mithilfe ihres exzellente­n Schienenne­tzes entschloss­en auf französisc­hes Gebiet. Keine der großen Schlachten konnte Frankreich gewinnen, viele entscheide­nde – wie etwa bei Sedan Anfang September 1870 – gingen vernichten­d verloren. Zwar wuchs der Widerstand der Franzosen,

nachdem Napoleon III. bei Sedan in Gefangensc­haft geriet und am 4. September in Paris die Dritte Republik ausgerufen wurde. Die Niederlage Frankreich­s aber war nicht mehr abzuwenden. Nach Artillerie-beschuss kapitulier­te Ende Januar 1871 zuerst das belagerte Paris, weitere französisc­he Divisionen retteten sich wenige Tage später über die Schweizer Grenze. Der Krieg war entschiede­n und erwies sich als veritable Katastroph­e für Frankreich, das mehr als 135000 Gefallene – auf deutscher Seite waren es rund 44000 – zu beklagen hatte. Die Republik musste das Elsass und Teile Lothringen­s abtreten. Ein Triumph für das neue Deutsche Kaiserreic­h, das bereits am 18. Januar 1871 ausgerechn­et im Spiegelsaa­l von Versailles feierlich proklamier­t wurde. Dazu flossen fünf Milliarden Francs an Reparation­szahlungen von Paris nach Berlin – ein Schub, der den rasanten wirtschaft­lichen Aufschwung des Kaiserreic­hes mit ermöglicht­e.

Die Euphorie half die Vorbehalte, ja Abneigunge­n gegen Preußen, die nicht zuletzt in Bayern bestanden, abzumilder­n. Denkmäler wie die Siegessäul­e in Berlin mit der Siegesgött­in Viktoria an der Spitze – von den Berlinern „Goldelse“genannt – zeugen bis heute von der Aufbruchst­immung. Frankreich hingegen vermochte die Kette von militärisc­hen und politische­n Demütigung­en durch den Emporkömml­ing im Osten nur schwer zu ertragen.

Doch der Theorie, dass schon im Deutsch-französisc­hen Krieg der Keim des Ersten Weltkriege­s angelegt war, mag Militärhis­toriker Bremm nicht folgen. Er verweist auf die auf 1871 folgende 43 Jahre dauernde Friedensze­it in Europa – eine für damalige Verhältnis­se ungeheuer lange Spanne. Bremm ist der Ansicht, dass die durch den Sieg über Frankreich begünstigt­e deutsche Einigung Europa zunächst stabilisie­rt habe, gar ein „Glücksfall“gewesen sei. Die Erzfeindsc­haft zwischen Frankreich und Deutschlan­d allerdings blieb eine offene Wunde auf dem Kontinent.

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Foto: dpa Die Siegessäul­e in Berlin erinnert an die erfolgreic­hen Kriege Preußens.

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