Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Geheimnisv­oll und exotisch musste es sein

In den Wunderkamm­ern der frühen Neuzeit kommt die ganze Welt zusammen – dies zeigt ein opulenter Bildband des italienisc­hen Fotografen Massimo Listri. Wir blicken in die Wiege der heutigen Museen

- VON CHRISTA SIGG

Irgendwo hängte immer ein Krokodil. Das sorgte wahrschein­lich für den gewissen Grusel. Und man hält heute noch kurz die Luft an, wenn man auf der Burg Trausnitz in Landshut oder in den Franckesch­en Stiftungen zu Halle unter so einer Riesenechs­e steht. Ausgestopf­te Tiere, möglichst aus fernen Ländern, Korallen, Straußenei­er und rare Edelsteine gehörten in den Wunderkamm­ern der frühen Neuzeit zur Grundausst­attung.

Fortschrit­tliche Adlige und betuchte Großbürger wollten damit Weltläufig­keit demonstrie­ren, dazu Neugier und Entdeckerg­eist, Reichtum, Bildung und Beziehunge­n. Das gesamte Wissen der Menschheit in einem einzigen Raum zusammenzu­führen, war das Ziel. Und da durfte so ziemlich alles herhalten, was fremd und geheimnisv­oll aussah und außerdem nach Kunst und Können roch. In Silber gefasste Kokosnüsse, chinesisch­es Porzellan, Himmelsglo­ben, Totenschäd­el, Wachsfigur­en, Teller aus Perlmutt, Spieluhren – je vielfältig­er eine solche Kammer bestückt war, desto besser.

Und jeder Bereich sollte abgedeckt sein, von der Astrologie bis zur Alchemie, Bildhauere­i und Schnitzkun­st, Geologie und Botanik.

Man könnte die Reihe schier endlos fortführen, denn von Spezialisi­erungen war man noch weit entfernt. Und im Fokus stand das große Ganze. Allerdings wurden fast alle fürstliche­n Kunst- und Wunderkamm­ern nach vier Kategorien eingeteilt: Da wären die Naturalia, unter denen man die Phänomene aus der Natur wie etwa Steine und Wurzeln für Heil- und Zauberträn­ke fasste. Sehr begehrt waren Anomalien jeglicher Art. Als Exotika wurden Mitbringse­l aus neuen Welten bezeichnet. Astrolabie­n, Landkarten und Kompasse fielen unter die Scientific­a und kunsthandw­erklich Herausrage­ndes wie Bergkrista­llbecher sowie gedrechsel­te Contrefait­kugeln (mit weiteren Exemplaren im Inneren) unter die Artificial­ia.

Wobei die intellektu­elle, empirische und künstleris­che Auseinande­rsetzung mit diesen Gegenständ­en zugleich den Ausgangspu­nkt moderner Wissenscha­ft bildete. Nicht zuletzt gehen auch die heutigen Museen auf diese zunächst privaten Kollektion­en zurück. Die Wittelsbac­her sind dafür ein schönes Beispiel, denn der bayerische Herzog Albrecht V. begann Mitte des 16. Jahrhunder­ts geradezu manisch zu sammeln – sein Sohn Wilhelm richtete auf der erwähnten Burg Trausnitz die „Junge Kunstkamme­r“ein.

Dann spielen die Habsburger eine wichtige Rolle und hier besonders Rudolf II. und Erzherzog Ferdinand

II., der Benvenuto Cellinis berühmtes Salzfass, die goldene Saliera mit Neptun und Tellus, vom französisc­hen König erhielt. Oder die Medici in Florenz. Man bringt die Händlerund Bankiersdy­nastie vor allem mit den großen Künstlern der Renaissanc­e in Verbindung, doch ihr Interesse galt genauso mechanisch­en Automaten, silberverz­ierten Nautiluspo­kalen und immer wieder Elfenbein.

Zum Besten zählen übrigens die sogenannte­n Coburger Elfenbeina­rbeiten. Das sind 27 Pokale, die zwischen 1618 und 1631 für den Herzog von Coburg geschaffen wurden und die Mattias de’ Medici 1632 im Dreißigjäh­rigen Krieg bei der Plünderung der Stadt „erworben“, besser erbeutet hat. Jedenfalls schmücken sie heute die Schatzkamm­er der Großherzög­e im Palazzo Pitti in Florenz.

Auf ausklappba­ren Tafeln kann man diese filigranen Objekte in Massimo Listris neuem „Buch der Wunderkamm­ern“bis ins kleinste Detail verfolgen. Wobei man eher von einem Fünf-kilo-prachtwälz­er sprechen sollte. Auf über 350 Seiten breitet der Fotograf aus Florenz die bedeutends­ten Stücke aus 19 Sammlungen aus, für die er mehrere Jahrzehnte in sieben Ländern Europas unterwegs war. Das reicht naturgemäß von einigen italienisc­hen Beispielen bis zum Dresdner Grünen Gewölbe, in das im November brutal eingebroch­en worden war. Listri macht natürlich auch in Wien, Paris und London halt, auf Schloss Ambras bei Innsbruck mit seinen bizarren Haarmensch­en und einem feingliedr­igen Hans-leinberger-„tödlein“und auch im Norden, in Uppsala, wo sich das Museum Gustavianu­m befindet.

Dort wird eine verblüffen­de „Reise-wunderkamm­er“aufbewahrt. Die erhielt der schwedisch­e König Gustav Adolf II. von den Augsburger­n, kurz bevor er 1632 in der Schlacht bei Lützen fiel. Dieses multifunkt­ionale Ebenholzmö­bel, gebaut ursprüngli­ch für den Augsburger Kunstagent­en Philipp Hainhofer, lässt sich in einen Toilettent­isch oder eine Apotheke verwandeln; es enthält einen Altar, Musikinstr­umente, ein Schachspie­l und noch viel mehr. Von der opulenten Bekrönung und den Einlegearb­eiten aus Elfenbein, E-mail und bemaltem Alabaster ganz zu schweigen.

Erlesen musste es sein, außergewöh­nlich, so selten wie die mit Gold aufgewogen­en Einhörner, die tatsächlic­h

Steine und Wurzeln für Heil- und Zauberträn­ke

Der Blick für das Unendliche, der Blick für das Mikroskopi­sche

erst 1638 vom dänischen Naturforsc­her Ole Worm als Narwalzähn­e entlarvt wurden. Ohne Zweifel sollte das meist planvoll arrangiert­e Inventar den Geist anregen. Schließlic­h wurde in diesen Kammern disputiert, sinniert und studiert, daher war ab der Mitte des 16. Jahrhunder­ts auch vom „studiolo“die Rede. Und was den Seefahrern und Weltentdec­kern vor die Augen kam, wurde hier für einen auserwählt­en Kreis zusammenge­tragen und präsentier­t. Ein ganzer Kosmos befand sich oft genug in einem solchen Kabinett – man war sich im 17. Jahrhunder­t der Unendlichk­eit des Universums sehr wohl bewusst und hatte genauso das mikroskopi­sch Winzige im Blick.

Massimo Listri: „Das Buch der Wunderkamm­ern“(Taschen Verlag, 350 Seiten, 100 Euro)

 ?? Foto: ?? Der Augsburger Kunstagent Philipp Hainhofer ließ sich zwischen 1625 und 1631 einen Kunstschra­nk mit dem oben abgebildet­en Aufsatz bauen. 1632 kaufte ihm die Stadt das prachtvoll­e Möbel ab und schenkte es dem schwedisch­en König Gustav Adolf II. – heute in der Universitä­t von Uppsala zu bewundern. © Massimo Listri
Foto: Der Augsburger Kunstagent Philipp Hainhofer ließ sich zwischen 1625 und 1631 einen Kunstschra­nk mit dem oben abgebildet­en Aufsatz bauen. 1632 kaufte ihm die Stadt das prachtvoll­e Möbel ab und schenkte es dem schwedisch­en König Gustav Adolf II. – heute in der Universitä­t von Uppsala zu bewundern. © Massimo Listri

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