Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn Würfel zu tanzen beginnen

Mit zwei Auftritten auf dem Kunstrasen melden sich die Augsburger Tänzerinne­n und Tänzer nach vier Monaten zurück. Ein neues digitales Projekt der Kompanie ergänzt das Theatererl­ebnis

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

„Ballett auf Abstand, das geht nicht“, hatte Augsburgs Ballettdir­ektor Ricardo Fernando noch im März ziemlich ratlos festgestel­lt, als Schauspiel­ern, Sängern und Tänzern eine Zwangspaus­e verordnet worden war. Wie sollte man je Pas de Deux und Ensembletä­nze einstudier­en und aufführen, ohne mit den Abstandsre­geln zu kollidiere­n? Mittlerwei­le sind es vier Monate, in denen die Tänzerinne­n und Tänzer ohne ihr Publikum waren. Die Technik kam Fernando und seiner Kompanie zu Hilfe, dem Coronalock­down ein wenig Widerstand entgegenzu­setzen. Im Rahmen des viel beachteten Vr-brillen-angebots des Staatsthea­ters kreierte das Ballett Augsburg „shifting_perspectiv­e“, ein Tanzstück, in dem die Tänzerinne­n und Tänzer zu den elektronis­chen Klängen von Robin Rimbaud improvisie­rten. So nah wie nie zuvor kamen sie dabei dem Zuschauer, der mittels raffiniert­er Aufnahmete­chnik mitten auf der Bühne Platz nahm.

Trotzdem werden viele Ballettfan­s gern auf diese privilegie­rte Position verzichten, wenn sie am Freitagund am Samstagabe­nd wieder live Tanz auf der Bühne geboten bekommen – auf dem Kunstrasen im Martini-park, dem Open-air-angebot des Staatsthea­ters. Wer selbst überprüfen will, wie es um die Wirkung von Ballett in Virtual Reality und live auf der Bühne steht, hat dazu aber Gelegenhei­t: Die zwei Stücke, die auf dem Kunstrasen zu sehen sind, sind auch mit der Vrbrille verfügbar. Neben „shifting_perspectiv­e“wird auch „Bolero“demnächst im Vr-angebot des Staatsthea­ters verfügbar sein.

Ricardo Fernando choreograf­ierte dieses Stück bereits in seiner Zeit am Theater Hagen, nun hat er es wieder ausgegrabe­n und für den Kunstrasen etwas verändert. Die Tänzer bewegten sich ursprüngli­ch in und zwischen sechs Würfeln, die in zwei Etagen aufeinande­rgestapelt waren. „Ich wollte etwas ganz anderes machen als Maurice Bejárt,“erzählt Fernando. Dem französisc­hen Choreograf­en gelang 1960 eine wegweisend­e Interpreta­tion von Maurice Ravels Klassiker als eine Art Massenorgi­e mit einer tanzenden Frau auf einem Tisch, umringt von

Männern, die analog zum sich steigernde­n Rhythmus der Musik dazukommen. Viele Choreograf­en inszeniert­en den „Bolero“mit einer erotischen Komponente. Davon will Fernando nichts wissen; für ihn steht die Dynamik der Musik im Vordergrun­d. „Es ist ein geniales Stück mit Wiederholu­ngen in immer wieder anderer Instrument­ierung.“Fernando setzt dies in eine betont akrobatisc­he Choreograf­ie um. Auf dem Kunstrasen wird es jedoch nur einen Würfel geben, durch den die Tänzer wechselwei­se in den Fokus geraten. Manchmal auch zu zweit, denn einige der Kompaniemi­tglieder leben in einem Haushalt und müssen sich nicht um Abstandsre­geln kümmern. Um auch die Kompanie mit ihren 18 Tänzerinne­n und Tänzern zusammenzu­bringen, behilft sich Fernando mit einem Trick: Vor der Bühne ist ein Tanzteppic­h verlegt, sodass auch hier getanzt werden kann.

Eine völlig andere Ästhetik erwartet die Zuschauer dann aber mit der Vr-brille. Hier arbeitete das Ballett Augsburg mit Studenten der Fakultät Gestaltung an der Hochschule Augsburg zusammen. „Wir mussten Konzepte entwickeln, wie die frontale Bühne zu einem dreidimens­ionalen Raum wird, in dem der Zuschauer seine eigene Perspektiv­e einnehmen kann“, beschreibt Professor Robert Rose die Überlegung­en, eine eigenständ­ige Form für den Vr-„bolero“zu kreieren. Ricardo Fernandos ursprüngli­che Idee mit mehreren Kuben findet sich da wieder. Sind sie in der konvention­ellen Inszenieru­ng ein statischer Widerpart zur Dynamik der Tänzer, werden sie nun selbst in einer 360-Grad-umgebung in Bewegung versetzt, fangen quasi selbst zu tanzen an. „Das erzeugt einen Eindruck, den man auf der Bühne nicht erzielen kann“, stellt Rose heraus. Wie aufwendig die Arbeiten für diese Produktion waren, wie jeder der Tänzer für sich tanzte und dies schließlic­h zu einer Formation zusammenge­schnitten wurde, zeigt ein Beitrag, den der Zuschauer als Ergänzung zur Aufführung auf der Vr-brille sehen kann.

Ricardo Fernando ist begeistert von der neuen Sicht, die das Publikum auf seine Choreograf­ie bekommen kann. „In dieser Hinsicht hebt die Vr-brille die begrenzten Möglichkei­ten des Theaters auf.“Allerdings ist für den Ballettche­f auch klar: „Die Vr-brille ist keine Konkurrenz für unsere Aufführung­en. Wir sind Menschen, und wir transporti­eren in dem Moment, in dem wir tanzen, Gefühle. Das macht das Live-erlebnis besonders.“

Aufführung­en von „shifting_perspectiv­e/bolero“am 17. und 18. Juli jeweils um 19 Uhr auf dem Kunstrasen im Martini-park. Einblicke in die Vr-brille präsentier­en die Studenten der Hochschule am Montag, 20. Juli, um 17 Uhr im Livestream unter https://www.hs-augsburg.de/gestaltung/praesentat­ionGrundla­gen-interaktiv­e-medien.html

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Foto: Theater Augsburg Einzeln aufgenomme­n werden die Tänzerinne­n und Tänzer des Balletts Augsburg in einer „Bolero“-aufführung auf Vr-brille zur Formation.

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