Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Eine Dokumentationsstelle für Antisemitismus
Eine neue Einrichtung in Bayern hält alltägliche Ausfälle gegen Juden fest
Hakenkreuze in der Synagoge, ein Angriff auf einen Rabbiner vor wenigen Tagen in München und Demonstranten, die sich mit Judensternen auf der Brust als Opfer der „Hygiene-diktatur“empört vor die Kameras stellen: Antisemitische Ausfälle im Alltag gibt es in Bayern genug. Seit 2019 finanziert das Sozialministerium eine Institution, die solche Ereignisse, aber auch niedrigschwellige wie Sprüche auf dem Schulhof oder antisemitische Graffitis auf Häusern und Briefkästen aufnimmt. Die „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“, abgekürzt Rias, ist bundesweit vernetzt und wird mit jährlich rund 380000 Euro aus dem bayerischen Landeshaushalt gefördert.
Annette Seidel-arpaci, Expertin für Jüdische Studien und erste Riaschefin, ist unter anderem bekannt geworden für ihre Forschungen zum Drang mancher Deutscher, sich selbst als Opfer zu sehen. Diese Erzählung, man sei doch im Zweiten Weltkrieg eigentlich weniger Täter, sondern durch die Bomben der Alliierten auch „Betroffener“gewesen, sei noch in den 90er Jahren in öffentlichen Debatten und Gedenkveranstaltungen verwurzelt gewesen, berichtet Seidel-arpaci im „Denkraum“. Dieser ist eine Initiative des Evangelischen Forums, Jüdischen
Museums und des städtischen Friedensbüros und hatte die Wissenschaftlerin zum Gespräch mit Museumsleiterin Barbara Staudinger in den Augustanasaal geladen. Bestuhlt für 77, fanden sich 40 Zuhörer ein, unter ihnen der Augsburger Landtagsabgeordnete Cemal Bozoglu (Grüne), Stadtrat Serdar Akin (Grüne), die Vorsitzende des Integrationsbeirats, Didem Lacinkarabulut, und der erste Friedenspreisträger der Stadt Augsburg, Helmut Hartmann.
Erst vor wenigen Tagen machte die Dokumentationsstelle die Antisemitismusvorfälle des ersten Halbjahres öffentlich. Demnach wurden 116 Ereignisse gemeldet, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 83. Darunter fielen „Siegheil“-rufe, Meldungen von bayerisch-jüdischen Familien, deren Kinder von Lehrern aufgefordert wurden, etwas zu Israel zu erzählen, oder auch Kollegen, die Juden baten, Israelpolitik zu kommentieren. Kategorisiert werde nicht nach Herkunft der Urheber, sondern nach politischer Einstellung und Ideologie. Ob Graue Wölfe, linker, rechter oder islamistischer Antisemitismus, die Verschwörungsgeschichten blieben dieselben. Aber eine Differenzierung nach dem politischen Hintergrund ermögliche es, bildungspolitisch gegen diese vorzugehen.
Mit der Polizei arbeitet Rias nicht zusammen, es sei denn, die betroffenen Personen wünschten es. „Es geht oft darum, alte Vorfälle einfach mal loswerden zu können und ernst genommen zu werden. Da sind wir dann auch eine Art Kummertelefon“, erzählt Seidel-arpaci. Wie sie selbst zu ihrem Lebensthema gekommen sei, will ein Zuschauer wissen. Als Kind einer Deutschen und eines Türken in der Nordoberpfalz, antwortet sie, habe man ihr in den 1970er Jahren oft gesagt: „Dich hätten sie früher auch vergast.“Irgendwann wollte sie wissen, wer das war, mit denen sie da in Verbindung gebracht wurde und die getötet werden sollte. „Und das hat mich dann nicht mehr losgelassen.“