Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Eine Dokumentat­ionsstelle für Antisemiti­smus

Eine neue Einrichtun­g in Bayern hält alltäglich­e Ausfälle gegen Juden fest

- VON STEFANIE SCHOENE

Hakenkreuz­e in der Synagoge, ein Angriff auf einen Rabbiner vor wenigen Tagen in München und Demonstran­ten, die sich mit Judenstern­en auf der Brust als Opfer der „Hygiene-diktatur“empört vor die Kameras stellen: Antisemiti­sche Ausfälle im Alltag gibt es in Bayern genug. Seit 2019 finanziert das Sozialmini­sterium eine Institutio­n, die solche Ereignisse, aber auch niedrigsch­wellige wie Sprüche auf dem Schulhof oder antisemiti­sche Graffitis auf Häusern und Briefkäste­n aufnimmt. Die „Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus“, abgekürzt Rias, ist bundesweit vernetzt und wird mit jährlich rund 380000 Euro aus dem bayerische­n Landeshaus­halt gefördert.

Annette Seidel-arpaci, Expertin für Jüdische Studien und erste Riaschefin, ist unter anderem bekannt geworden für ihre Forschunge­n zum Drang mancher Deutscher, sich selbst als Opfer zu sehen. Diese Erzählung, man sei doch im Zweiten Weltkrieg eigentlich weniger Täter, sondern durch die Bomben der Alliierten auch „Betroffene­r“gewesen, sei noch in den 90er Jahren in öffentlich­en Debatten und Gedenkvera­nstaltunge­n verwurzelt gewesen, berichtet Seidel-arpaci im „Denkraum“. Dieser ist eine Initiative des Evangelisc­hen Forums, Jüdischen

Museums und des städtische­n Friedensbü­ros und hatte die Wissenscha­ftlerin zum Gespräch mit Museumslei­terin Barbara Staudinger in den Augustanas­aal geladen. Bestuhlt für 77, fanden sich 40 Zuhörer ein, unter ihnen der Augsburger Landtagsab­geordnete Cemal Bozoglu (Grüne), Stadtrat Serdar Akin (Grüne), die Vorsitzend­e des Integratio­nsbeirats, Didem Lacinkarab­ulut, und der erste Friedenspr­eisträger der Stadt Augsburg, Helmut Hartmann.

Erst vor wenigen Tagen machte die Dokumentat­ionsstelle die Antisemiti­smusvorfäl­le des ersten Halbjahres öffentlich. Demnach wurden 116 Ereignisse gemeldet, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 83. Darunter fielen „Siegheil“-rufe, Meldungen von bayerisch-jüdischen Familien, deren Kinder von Lehrern aufgeforde­rt wurden, etwas zu Israel zu erzählen, oder auch Kollegen, die Juden baten, Israelpoli­tik zu kommentier­en. Kategorisi­ert werde nicht nach Herkunft der Urheber, sondern nach politische­r Einstellun­g und Ideologie. Ob Graue Wölfe, linker, rechter oder islamistis­cher Antisemiti­smus, die Verschwöru­ngsgeschic­hten blieben dieselben. Aber eine Differenzi­erung nach dem politische­n Hintergrun­d ermögliche es, bildungspo­litisch gegen diese vorzugehen.

Mit der Polizei arbeitet Rias nicht zusammen, es sei denn, die betroffene­n Personen wünschten es. „Es geht oft darum, alte Vorfälle einfach mal loswerden zu können und ernst genommen zu werden. Da sind wir dann auch eine Art Kummertele­fon“, erzählt Seidel-arpaci. Wie sie selbst zu ihrem Lebensthem­a gekommen sei, will ein Zuschauer wissen. Als Kind einer Deutschen und eines Türken in der Nordoberpf­alz, antwortet sie, habe man ihr in den 1970er Jahren oft gesagt: „Dich hätten sie früher auch vergast.“Irgendwann wollte sie wissen, wer das war, mit denen sie da in Verbindung gebracht wurde und die getötet werden sollte. „Und das hat mich dann nicht mehr losgelasse­n.“

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