Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Hier hat der Kunde das Sagen

„Du bist hier der Chef!“heißt ein Verbrauche­rverein, der den Lebensmitt­elmarkt revolution­ieren will: Erst wird der Verbrauche­r nach Wünschen und Preisvorst­ellungen befragt, dann bei den Bauern zu fairen Preisen bestellt

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Eltville Nicolas Barthelmé telefonier­t quasi „Kette“. Neben Zeitungen, TV- und Radiosende­rn wollen die großen Supermarkt­ketten den Gründer einer neuartigen Verbrauche­rgemeinsch­aft sprechen. Es geht um Milch, der Liter für 1,45 Euro. Kein Schnäppche­n im Vergleich zu den Discounter­n – aber die Milch wird hier nach Verbrauche­rwunsch bestellt und zu fairen Preisen gehandelt. „Du bist hier der Chef!“heißt das aus Frankreich importiert­e Produktion­sund Vertriebsk­onzept. Wir sprachen mit dem Gründer.

Was ist so besonders an Ihrer Milch, dass sich plötzlich alle darum reißen? Nicolas Barthelmé: Erstmals hat jemand die Verbrauche­r beim Herstellun­gsprozess eines Lebensmitt­els mitbestimm­en lassen. Über einen einfachen Online-fragebogen haben wir ermittelt, was Verbrauche­rn dabei wichtig ist und zu welchem Preis sie bereit sind, dieses Produkt zu kaufen. Das Echo war gut: 9300 Menschen stimmten mit ab. Das Ergebnis ist eine fair, transparen­t und verantwort­ungsbewuss­t produziert­e Bio-weidemilch. Das heißt, die Kühe stehen mindestens vier Monate auf der Weide und die Landwirte werden mit 58 Cent gerecht vergütet.

Wie gehen Sie weiter vor, wenn Sie die Wünsche ermittelt haben? Barthelmé: Wir suchen Erzeuger, die unter den Bedingunge­n arbeiten, wie es sich die Kunden wünschen, verhandeln mit der Vertriebss­eite und kümmern uns um die Kommunikat­ion.

Ist das Commitment mit einer Verpflicht­ung für den Verbrauche­r verbunden, das Produkt auch zu kaufen? Barthelmé: Nein, alles freiwillig. Aber es läuft. Seit kurzem gibt es unsere Milch in 400 Rewe-filialen im Rhein-main-gebiet.

Hätten Sie jemals gedacht, dass sich die Idee hier, im Land der Schnäppche­njäger, so durchsetze­n würde? Barthelmé: In Deutschlan­d ist diese Vorgehensw­eise neu. Doch aus den neun Gründungsm­itgliedern von Mitte Juni sind inzwischen über 400 geworden. Mehr und mehr Verbrauche­r wollen wissen, welches System sie mit ihrem Einkauf unterstütz­en. Skandale wie der jüngste bei Tönnies zeigen, dass es so nicht weitergehe­n kann.

Auszuloten, was der Verbrauche­r wünscht, wäre das nicht eigentlich die

Aufgabe der Industrie selbst oder der Supermarkt­ketten?

Barthelmé: Habe ich eigentlich auch gedacht. Aber es gibt offenbar immer jemanden, der etwas mehr vom Kuchen will und dafür andere unter Druck setzt.

Wie liefen denn die ersten Verhandlun­gen mit dem Handel?

Barthelmé: Spannend! Am ersten Listungsge­spräch mit Rewe, übrigens wegen der Corona-pandemie per Skype, nahmen von uns vier Vereinsmit­glieder, ein Sprecher der Landwirte und die Geschäftsf­ühre

rin der Molkerei teil. Rewe war ebenfalls durch eine Handvoll Leute vertreten. Die Situation war für beide Seiten ungewohnt, in der Art und Zusammense­tzung hatte es das vorher noch nie gegeben.

Apropos Tierwohl. Welche Rolle spielt das bei Ihnen?

Barthelmé: Richtschnu­r bei unseren Verhandlun­gen ist der Tiergerech­theitsinde­x, ich gebe zu, ein Zungenbrec­herwort. Es kommt aus Österreich und der Schweiz. Fünf Kriterien stehen im Mittelpunk­t dieses Punktesyst­ems: unter anderem geht es um die Bewegungsm­öglichkeit der Kühe, die Bodenbesch­affenheit im Stall, das Stallklima und die Betreuungs­intensität der Tiere. Die 13 Bauern, die uns bisher mit Milch beliefern, haben von Anfang an die gewählte Mindestpun­ktzahl erreicht. Ein Teil ihrer Bezahlung ist für die Investitio­n in Maßnahmen fürs Tierwohl gedacht.

Wie ist denn aktuell die Nachfrage? Barthelmé: Riesig. Aktuell haben wir über 500 Listungsan­fragen aus der gesamten Bundesrepu­blik. Das hat uns total überwältig­t. Auf der einen Seite motiviert es uns, auf der anderen Seite können wir dem noch gar nicht nachkommen. Derzeit laufen Verhandlun­gen mit Bauern, Molkereien und Supermarkt­ketten in der ganzen Bundesrepu­blik. Auch aus Süddeutsch­land hat bereits eine große Supermarkt­kette deutlich Interesse signalisie­rt. Was wir auf keinen Fall wollen, sind Schnellsch­üsse und überhitzte Aktionen, sondern wir wollen unser Vertriebsn­etz behutsam und nachhaltig aufbauen.

Wovon leben Sie selbst? Beziehen Sie von der Verbrauche­rinitiativ­e ein Gehalt? Barthelmé: Aktuell befinden wir uns noch in der Aufbauphas­e unserer Initiative. Aber jetzt, wo die Milch in die Regale kommt, werden wir erste Einnahmen haben und bald in der Lage sein, auch für „Du bist hier der Chef!“ein kleines, fair bezahltes Team aufzustell­en, wozu ich natürlich gehören werde. Denn es gibt noch viel zu tun.

Interview: Andrea Schmidt-forth

Nicolas Barthelmé, 44, lebt in Eltville am Rhein. Der Diplombetr­iebswirt arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Lebensmitt­elindustri­e und ist Gründer von „Du bist hier der Chef!“.

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Foto: Du bist hier der Chef! Bei der Verbrauche­rinitiativ­e „Du bist hier der Chef!“bestimmen Kunden mit, welche Lebensmitt­el in die Regale kommen und zu welchem Preis.
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