Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Medikamente helfen sehr“Vor 25 Jahren wurde Alanis Morissette zum Popstar. Die dreifache Mutter spricht offen über Depressionen, Liebessucht und glückliche Tränen
Morissette: Das kann man wohl sagen. Die Annahme war ja immer „Mütter und Väter sind so voller Liebe und Glück, denen muss es einfach ganz wunderbar gehen.“Und wenn man dann leidet, heißt es nur „Schlaf dich mal aus“. Aber so einfach ist es leider nicht.
In „Losing The Plot“sagen Sie, dass das Licht am Ende des Tunnels der Zug sei, der mit 160 Stundenkilometern auf Sie zurase.
Morissette: Und trotzdem steckt in dem Lied viel Zuversicht. Ich habe gelernt, dass meine Depressionen nach den Geburten zwei bis drei Jahre anhalten. Das ist kein Leiden für den Rest des Lebens. Am Großartigsten ist es, langsam wieder rauszukrabbeln aus der dunklen Höhle, jedes Mal etwas weiser und widerstandsfähiger.
Vielleicht doch noch ein viertes Kind? Morissette: Oh nein. (lacht). Mum is done. (Mama ist fertig) In einem Paralleluniversum hätte ich zehn leibliche und zehn adoptierte Kinder, aber ich bin mit dem Kinderkriegen durch. Ich arbeite bei drei Kindern ja praktisch Vollzeit.
Mehr geht nicht.
Sie waren in Kanada ein Kinderstar, bei Karrierebeginn nicht viel älter als Ihr Neunjähriger …
Morissette: Das stimmt. Mal schauen. Wir forcieren nichts, aber wir würden die Kinder auch nicht daran hindern, wenn das ihr Wunsch wäre. Ich selbst wusste mit drei, dass ich Sängerin werden wollte. Aber bis heute denke ich, ich hätte auch gern studiert. Die heutige Zeit ist offener, die Gesellschaft lädt dich geradezu ein, alles sein zu können. Ich finde diese Ära toll für vielfältig begeisterte Menschen.
„Reasons I Drink“ist der wütendste Song auf Ihrem Album. Wie wichtig ist Wut?
Morissette: Wut ist immens wichtig. Wut ist für mich ein positives Gefühl. So lange wir unsere Wut spüren und ihr Ausdruck verleihen können, sind wir nicht depressiv. Meine Wut hilft mir, als Mamabär die Kinder zu beschützen, und sie hilft mir auch, wenn ich bei Kongressen über Themen
wie das Patriarchat und die Stellung von Frauen in der Musikbranche debattiere. Wut stößt Veränderungen an. Ich liebe junge Menschen wie Greta Thunberg. Sie hat sehr viel Grund, um wütend zu sein.
Sie haben vor mehr als zehn Jahren schon erklärt, als Teenager vergewaltigt worden zu sein, in Songs wie „Hands Clean“haben Sie über Ihre Erfahrungen, die auch die Erfahrungen vieler Frauen gerade in der Entertainmentbranche sind, gesungen. Was denken Sie über die #Metoo-bewegung? Morissette: In einem Wort: Es ist großartig, was passiert. Ich werde immer sauer, wenn es heißt: „Warum hat sie so lange gewartet, bis sie was gesagt hat?“Die meisten Frauen haben nicht gewartet. Ich will nicht wissen, wie viele von uns in ihren Betrieben beim Chef oder in der Personalabteilung waren – und abgeblitzt sind. Oder gar gemobbt wurden. Jetzt endlich wird einem zugehört. Für mich ist #Metoo keine feministische Bewegung, sondern eine menschliche.
Ihr berühmtestes Album „Jagged Little Pill“wird in diesem Jahr 25 Jahre alt. Sind Sie stolz? Morissette: Ja. Ich kann diese Songs immer noch mit derselben Überzeugung singen wie mit Anfang 20. Das Album hat das Leben vieler Menschen ein bisschen beeinflusst, es hat ihnen eine ganze Palette von Gefühlen an die Hand gegeben: Wut, Freude, Trauer, Glück, das volle Programm. „Jagged Little Pill“war ein Erlaubnis-erteiler für Emotionen aller Art, und deshalb wurde es so ein Zeitgeist-phänomen.
Inzwischen gibt es auch eine Musicalversion, die am Broadway gespielt wird.
Morissette: Und ich heule jedes Mal, wenn ich im Publikum sitze. Es sind glückliche Tränen.
Was ist Ihr nächstes Projekt? Morissette: Ich arbeite an einem Buch. 1300 Seiten habe ich schon geschrieben. Aber ein paar Monate brauche ich noch. Ich liebe es einfach, viele Worte zu machen (lacht).
Interview: Steffen Rüth