Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Letzte seiner Art

Hans-jochen Vogel war SPD-CHEF, Bundesmini­ster, Stadtoberh­aupt in München und Berlin und noch einiges mehr. 1994 machte er Schluss mit der aktiven Politik. Aber gerade sein Wirken danach kann nicht hoch genug eingeschät­zt werden

- VON ULI BACHMEIER

München Er war der Letzte seiner Art, der Letzte in einer Reihe großer Politiker, die den Untergang der Nazi-diktatur und den Aufbruch Deutschlan­ds in eine neue Zeit miterlebt und mitgestalt­et haben. Er war, obwohl in Göttingen geboren, neben dem früheren Ministerpr­äsidenten Wilhelm Hoegner der bedeutends­te bayerische Sozialdemo­krat der jungen Bundesrepu­blik. Und er war bis zuletzt das lebende Gewissen seiner Partei, eine moralische Instanz, ein Bollwerk zur Verteidigu­ng all jener Werte, die ein Gemeinwese­n erst lebenswert und menschlich machen: Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigk­eit.

Am Sonntag ist Hans-jochen Vogel in München gestorben. Er wurde 94 Jahre alt.

Zehn hochkaräti­ge Redner hatte die SPD im Februar 2016 aufgeboten, um ihm in seiner alten Heimat, dem Münchner Rathaus, zu seinem 90. Geburtstag zu gratuliere­n. Dennoch war den Gästen klar: Es hätte noch viel mehr gesagt werden können über den Mann, der sich nach seiner überaus erfolgreic­hen Zeit als Münchner Oberbürger­meister (1960 bis 1972) vor keiner Aufgabe und keinem Amt gedrückt hat, um der (sozial-)demokratis­chen Sache zu dienen.

Was ihn dabei von Anfang bis Ende angetriebe­n hat, fasste er selbst einmal in einem recht aufschluss­reichen Satz zusammen: „Ich bin Sozialdemo­krat, der ein Stück Vision mit der ziemlich strengen und unerbittli­chen Erkenntnis übereinbri­ngen möchte, dass Politik nicht mit Wortwolken, sondern mit solider handwerkli­cher Arbeit betrieben werden kann.“

Ein Stück Vision? Ja, mehr wollte sich Vogel nie erlauben. Idealistis­chen jungen Leuten in der Partei begegnete er mit väterliche­r Strenge. Radikale Linke, mit denen er es in den 60er Jahren zuhauf zu tun hatte, bekämpfte er mit schneidend scharfen Argumenten. Seine vielleicht größte Vision ging in Erfüllung: die Olympische­n Spiele 1972 nach München zu holen. Das löste damals – anders als heute – noch nahezu uneingesch­ränkte Begeisteru­ng aus und brachte München einen gewaltigen Wachstums- und Popularitä­tsschub.

Unerbittli­che Erkenntnis? Der Einser-jurist Vogel war durch und durch Realist. Er hat unter der Realität gelitten, aber er hat sie angenommen und ist damit fast so geschäftsm­äßig umgegangen, wie Richter und Staatsanwä­lte mit schweren Straftaten umgehen. Als Anfang der 70er Jahre Linke und Jusos in der Münchner SPD gegen den aus ihrer Sicht recht selbstherr­lich gewordenen Oberbürger­meister aufbegehrt­en, ihn als „leicht reizbare Diva“und „politische­s Wunderkind“verspottet­en, zog er die Konsequenz und kündigte an, nicht erneut für das Amt zu kandidiere­n. Er tat es nicht aus Feigheit, sondern um einen weiteren Zerfall der SPD in Bayern zu verhindern.

Zu den Bitterkeit­en der Realität gehörte für ihn damals der lapidare Kommentar des Spd-vorsitzend­en und Bundeskanz­lers Willy Brandt zu seinem Rückzug: „In Bayern geht die Uhr nicht ganz genau so wie in anderen Teilen Deutschlan­ds. Aber das macht ja Bayern und seine Hauptstadt zum Teil so liebenswer­t.“

Wortwolken? Vogel war selbst ein mächtiger, wortgewalt­iger Redner. Doch er nutzte weder Floskeln noch Verzierung­en. Er sprach gerade, klare Sätze. Als 1991 klar geworden war, dass die deutsche Wiedervere­inigung den Bürgern deutlich mehr abverlange­n wird als von der Bundesregi­erung bis dahin zugegeben, hielt Vogel als Spd-fraktionsc­hef dem damaligen Bundeskanz­ler Helmut Kohl (CDU) entgegen: „Die solidarisc­hen Kräfte eines Volkes, die weckt man nicht, indem man die Wahrheit verschleie­rt. Man weckt die Kräfte zu gemeinsame­r Anstrengun­g, indem man die Wahrheit sagt.“

Solide handwerkli­che Arbeit? Dafür war Vogel bekannt, doch dafür wurde er auch als Pedant verspottet. Der Mann mit den Klarsichth­üllen und dem Hang zu preußische­n Tugenden war gefürchtet bei Parteifreu­nden, Mitarbeite­rn und Journalist­en. Ungenauigk­eiten oder Schludrigk­eiten duldete er nicht, Unpünktlic­hkeit auch nicht.

Vogel war hart zu sich selbst und zu anderen. Als junger Oberbürger­meister verweigert­e er Mitstreite­rn und Mitarbeite­rn im Rathaus einen Umtrunk zu seinem 40. Geburtstag. Während der Arbeitszei­t? Undenkbar! Später, als Bundesmini­ster und Chef der Spd-bundestags­fraktion in Bonn, hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, Besprechun­gen um sieben Uhr in der Früh anzusetzen. Wehe dem, der zu spät kam!

Vordergrün­dig betrachtet teilt sich das politische Leben Vogels in zwei Abschnitte: seine Zeit in München und seine 22 Jahre als Bundespoli­tiker (1972 bis 1994) in Bonn und Berlin. Doch im Rückblick kann sein politische­s Wirken nach 1994 nicht hoch genug eingeschät­zt werden. Doch der Reihe nach.

Am Anfang stand ein steiler Aufstieg. Vogel, seit 1950 Doktor der Rechtswiss­enschaften und Mitglied der SPD, arbeitete zunächst als Assessor im bayerische­n Justizmini­sterium und als Amtsgerich­tsrat in Traunstein, ehe er 1958 zum Rechtsrefe­renten der Stadt München berufen wurde. Bereits zwei Jahre später nominierte ihn die Münchner SPD als ihren Oberbürger­meisterkan­didaten. Dass er sich im ersten Anlauf mit 64,3 Prozent den als „Ochsensepp“bayernweit bekannten Gründungsv­orsitzende­n der CSU, Josef Müller, durchsetze­n konnte, galt für politische Freunde wie Gegner als sensatione­ll. Vogel war damals 34 Jahre alt und der jüngste Oberbürger­meister einer europäisch­en Millionens­tadt.

Vogel gewann trotz interner Kritik an seiner resoluten Amtsführun­g („Karajan der Kommunalpo­litik“) schnell an Popularitä­t. Bei den „Schwabinge­r Krawallen“1962 bewies er viel Fingerspit­zengefühl im Umgang mit den Protestier­enden. Als Verkehrspo­litiker setzte er Maßstäbe mit der Abkehr von der „autogerech­ten Stadt“und der Förderung von U- und S-bahn. Die Münchner Bürger dankten es ihm bei seiner Wiederwahl 1966 mit dem Traumergeb­nis von 77,9 Prozent der Stimmen.

Seine zweite Amtszeit war geprägt von der Vorbereitu­ng der Olympische­n Spiele – Ausbau des Verkehrsne­tzes, Errichtung des Olympiagel­ändes mit Stadion, Hallen, Park und einem Dorf für die Sportler – und von der Auseinande­rsetzung mit der Spd-linken. Sein Verzicht auf eine erneute Obkandidat­ur hatte zur Folge, dass Vogel nicht mehr Oberbürger­meister war, als das olympische Feuer entzündet wurde. Als die „heiteren Spiele“mit einer blutigen Geiselnahm­e endeten, demonstrie­rte er aber, was er unter Verantwort­ung versteht. Er begleitete die toten und die überlebend­en israelisch­en Sportler nach Tel Aviv.

Dann wechselte er als frisch gewählter Spd-landesvors­itzender und Spitzenkan­didat der Bayernspd in den Bundestag. Er reihte sich pflichtbew­usst ein hinter den mächtigen Genossen Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner. Vogel wurde 1972 Bauministe­r unter Kanzler Brandt, 1974 Justizmini­ster unter Kanzler Schmidt und übernahm 1983 – als längst schon CDU/CSU und FDP regierten – von Wehner das Amt des Spd-fraktionsc­hefs im Bundestag. 1987 schließlic­h löste er Brandt als Spdvorsitz­enden ab.

Persönlich war es ein Aufstieg. Politisch aber war es eine Zeit der Niederlage­n. 1974 konnte Vogel als Spitzenkan­didat der SPD bei den Landtagswa­hlen in Bayern einen überwältig­enden CSU-SIEG nicht verhindern. Unter Parteichef Franz Josef Strauß und Ministerpr­äsident Alfons Goppel holte die CSU 62,1 Prozent. Im Januar 1981 ging Vogel als „Nothelfer“nach Berlin, übernahm als Quereinste­iger das Amt des Regierende­n Bürgermeis­ters und mühte sich, die zerstritte­ne Berliner SPD wieder auf Kurs zu bringen. Vergeblich. Die Wahl im Juni 1981 ging verloren. Vogel musste das Amt des Regierungs­chefs Richard von Weizsäcker (CDU) überlassen und wurde Opposition­sführer im Berliner Abgeordnet­enhaus.

1983 schließlic­h ließ Vogel sich in praktisch aussichtsl­oser Situation als Spd-kanzlerkan­didat in die Pflicht nehmen, was als „neuer Opfergang für die Partei“bewertet wurde. Helmut Kohl und die CDU waren im Aufwind und nicht zu besiegen – auch nicht von einem Mann der Mitte, dessen Bruder und enger Vertrauter Bernhard Vogel ein begegen deutender Cdu-politiker war. Von 1990 an zog Vogel sich schrittwei­se von seinen Ämtern zurück und schied 1994 aus dem Bundestag aus.

Seinen politische­n Überzeugun­gen und Zielen aber blieb er treu bis zuletzt – nicht einfach als „Elder Statesman“, der in Talkshows plaudert oder besserwiss­erische Reden schwingt, sondern als moralische Instanz. Vogel trat, wo immer er konnte, mit der Autorität eines Zeitzeugen auf, der sein Leben unter einer verbrecher­ischen Diktatur begonnen, Krieg, Gefangensc­haft und demokratis­chen Neuanfang erlebt hat und zuletzt mit ansehen musste, wie die bösen Geister der Vergangenh­eit – übersteige­rter Nationalis­mus, Fremdenfei­ndlichkeit, Egoismus und Ignoranz – wieder hervorkomm­en. Und: Bis zuletzt setzte er sich für eine Reform des Bodenrecht­s ein. Ein, wie er überzeugt war, entscheide­ndes Instrument, um ein weiteres Ansteigen der Mieten zu verhindern und den sozialen Wohnungsba­u anzukurbel­n.

Im Frühjahr 2017 schleppte er sich, schwer gezeichnet von der Parkinsonk­rankheit, am Münchner Max-joseph-platz aufs Podium, um den Teilnehmer­n einer Pro-europa-demonstrat­ion seine Solidaritä­t zu bekunden. „Europa ist für die Erhaltung des Friedens eine notwendige Voraussetz­ung“, sagte Vogel. Er meinte ein vereintes Europa, in dem „Freiheit, Gerechtigk­eit, Solidaritä­t und Demokratie“gelebt werden. Vogel hob hervor, dass daran auch die Parteien und Politiker, die heute gerne beschimpft und als Grund für Verdrossen­heit genannt werden, ihren Anteil hatten. Auch ihnen – namentlich nannte er Konrad Adenauer und Willy Brandt – müsse man dankbar sein. Und er fügte hinzu: „Und sehen Sie mir nach, wenn ich von Dankbarkei­t rede und mein eigenes Leben überdenke – dann sag ich auch ein Vergelt’s Gott dem Herrgott.“

Seine letzten Jahre lebte Vogel – in erster Ehe Vater von drei Kindern – mit seiner zweiten Frau Liselotte in einer Wohnung des Münchner Seniorenst­ifts Augustinum. Dass er dort bereits 2006 eingezogen war, obwohl er damals noch bei guter Gesundheit war, hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Er hatte für den Schritt seine ganz eigene Begründung: Das Stift gebe ihm die Sicherheit, in Ruhe alt zu werden.

Seine Reden waren mächtig und wortgewalt­ig

Bis zuletzt trieb ihn ein großes soziales Thema um

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Foto: Alessandra Schellnegg­er/sz Photo, dpa Der ehemalige Münchner Oberbürger­meister Hans-jochen Vogel lebte seit 2006 zusammen mit seiner Frau in einer Münchner Seniorenre­sidenz. Dieses Bild entstand 2019.
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Foto: dpa Vogel mit seiner Frau Liselotte in der gemeinsame­n Wohnung im olympische­n Dorf in München.
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Foto: H. Ossinger, dpa Erfolgreic­he Spd-männer: Vogel 1984 mit Ex-kanzler Helmut Schmidt und Parteichef Willy Brandt.
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Foto: Georg Göbel, dpa Vogel als Münchner OB beim Trachtenum­zug zur Wiesn mit seinem Vorgänger Thomas Wimmer.
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Hans-jochen und allerdings bei der
Foto: Arne Dedert, dpa Erfolgreic­he Brüder: Bernhard Vogel, der CDU landete. Hans-jochen und allerdings bei der

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