Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (10)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
Erinnerst du dich an seine Stimme, seinen Dialekt? Könntest du sagen, ob er aus dem Norden oder Süden stammte?“, fragte er.
„Er sprach nicht viel“, antwortete der Lastenträger, „aber er war aus dem Norden… oder“, er zögerte etwas, „nein, er sprach wie Sie, gepflegt, ja, er sprach eigentlich wie ein Damaszener, mit einem leichten nordischen Akzent… Vielleicht war er aus Aleppo.“
Barudi machte sich eine Notiz. „Aber“, sagte der Transporteur, „da war noch etwas, ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Als er mit mir das Fass auf die Ladefläche stemmte, sah ich eine auffällige Narbe unter seinem rechten Ohrläppchen…“
„Oh, das ist sehr wichtig. Wie sah sie denn aus? War sie groß?“
Der Transporteur dachte nach. „Sie verlief hier, schräg vom Ohrläppchen zur Wange hin“, sagte er dann und zog mit dem Zeigefinger einen Strich auf seine Wange, „und war vielleicht so lang wie mein Daumen.“
Barudi notierte: Narbe, circa fünf Zentimeter. Er trug dem Mann auf, zu seinem Kollegen Schukri zu gehen und seine Fingerabdrücke abzugeben. Er gab ihm die Adresse der Kriminalpolizei und ermahnte ihn, sich unverzüglich dort einzufinden.
„Ich fahre sofort hin. Heute ist Flaute, die Transporteure stehen einander auf den Füßen. Ich habe nichts zu tun. Bekommt man dort einen Tee?“, fragte er.
„Ja, sicher. Falls mein Kollege Schukri noch nicht da ist, sag einfach, Kommissar Barudi habe Anweisung gegeben, Tee und Kekse zu spendieren.“
Froh, einen kleinen Schritt weitergekommen zu sein, ging Barudi ins „Coffee Hijaz“und bestellte einen heißen Tee. Die eisige Kälte war ihm durch das lange Gespräch auf der Straße unter die Haut gekrochen. Hier war es angenehm warm und ruhig. Das Café schien nur von Intellektuellen besucht zu sein. Fast alle lasen Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher. An der Wand hingen
Drucke von Matisse, Picasso und
Miró.
Er rief seinen Assistenten Nabil an und beauftragte ihn, den Autoverleih zu kontaktieren und die Liste der Kunden zu verlangen, die im vergangenen Monat einen weißen Sprinter gemietet hatten.
Dann hing er seinen Gedanken nach. Wer wagt es, einen Kardinal umzubringen? Und warum? Und warum hatte man ihn ausgerechnet in Olivenöl gelegt?
Die wenigen Fakten, die bislang vorlagen, deuteten auf Islamisten. Die Botschaft wiederum, die der Leiche zu entnehmen war, sprach, auch wenn Barudi sie noch nicht richtig verstand, eher für das professionelle Vorgehen der Mafia. Religiöse Fanatiker sprengten ihre Feinde in die Luft, erschossen oder erstachen sie, nie aber besaßen sie die Kaltschnäuzigkeit, die Leiche eines Ermordeten zu öffnen und wieder zuzunähen und subtile Botschaften zu hinterlassen.
Barudi sah sich vor einer großen Herausforderung und wusste, dieser Fall könnte heikel werden. Er würde es mit Geheimdienstlern, Politikern, Islamisten und Mafiosi zu tun bekommen. Vermutlich waren die Täter selbst oder ihre Hintermänner einflussreiche Personen. Sobald sie den Hauch einer Verdächtigung spürten, würden sie die Ermittlung gegen die Wand fahren lassen oder ihn sogar töten. Barudi wollte so unauffällig wie möglich ermitteln.
Und er musste Rücksprache mit seinem Chef nehmen, sich absichern, bevor es zu spät wäre. Wie damals vor fast vierzig Jahren, als er in Damaskus angefangen hatte: Der damalige Chef der Kriminalpolizei, Oberst Kuga, hatte ihn beauftragt, bei dem Mord an einem hohen Offizier zu ermitteln. Das war Barudis erster großer Fall. Aber dann entzog ihm der Geheimdienst die Befugnis und machte aus dem Kriminalfall ein Politikum, eine Carte blanche zur Hinrichtung gefährlicher Dissidenten, die mit dem Mord nichts, aber auch wirklich nichts zu tun hatten. Barudi recherchierte heimlich weiter. Er wollte den Mörder fassen. Doch sein Chef, Oberst Kuga, ließ ihn fallen, und Barudi wurde zur Strafe für seine inoffizielle Ermittlung an die jordanische Grenze versetzt. Dort blieb er fünf Jahre. Erst durch die Vermittlung seines Cousins, der, wie auch immer, zu Macht kam, konnte er nach Damaskus zurückkehren und seine Arbeit als Kriminalbeamter wieder aufnehmen.
Sein neuer Chef, der vierzigjährige Major Atif Suleiman, sah aus wie ein typischer Neureicher, falscher Haarschnitt, falscher Anzug, falsche Krawatte und falscher Humor. Bei ihm kam noch die Beleibtheit dazu. Seine Kleidung schien immer eine Nummer zu klein zu sein. Er war ein verwegener, korrupter Mann, aber er ließ seine Mitarbeiter nie im Stich. Das brachte ihm Respekt unter den Kollegen ein. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten war das Gebäude der Kriminalpolizei am Babmusala-kreisel eine Festung. Wenn der Chef ein Cousin des Präsidenten ist und auch sein Vater schon dem Vater des jetzigen Präsidenten treu gedient hat, dann ist er in Damaskus ein Garant gegen Einmischungen von außen.
Barudi wollte offen mit seinem Chef reden. Der Fall war kompliziert und wahrscheinlich lebensgefährlich, dennoch würde er ihn gern übernehmen, wenn er die Zusage bekäme, dass sich der Geheimdienst heraushielt. Er dachte an die Einwände, die sein Chef vorbringen könnte, und beschloss, eine klare Haltung einzunehmen: Niemand sollte sich einmischen, oder er würde die Sache hinschmeißen. Er stand kurz vor der Rente. Auf irgendwelche Beförderungen war er ohnehin nie scharf gewesen. Vermutlich wäre dies sein letzter Fall.
Barudi hasste den Geheimdienst mit seinen fünfzehn Abteilungen. Dieser Oktopus hatte seine Tentakel überall. Er behinderte nicht selten die Suche nach den Tätern, verbot
Fragen, verweigerte die Erlaubnis, Politiker zu vernehmen, sperrte Informanten ein oder tötete sie gar, wenn sie zu viel wussten. Das Schlimmste dabei war, dass der Gegner, der einem die Arbeit verdarb, unsichtbar blieb.
Plötzlich schoss Barudi eine rettende Idee durch den Kopf. War es bei diesem Mord nicht sogar im Interesse Syriens, dass sich der Geheimdienst heraushielt? Sonst könnte der Fall leicht zu einer Verstimmung der Italiener und zur Einmischung mehrerer ausländischer Geheimdienste führen. Am besten ließ man die Politik außen vor und führte die Ermittlung behutsam und neutral, nur auf Kriminaltechnik und Indizien gestützt. Von Zeit zu Zeit könnte er einen Mitarbeiter der vatikanischen Botschaft informieren, damit sie in Rom erfuhren, dass die Kriminalpolizei in Damaskus nicht schlief.
Als er am Donnerstag in seinem Büro angekommen war, legten Ali und Nabil, seine zwei Assistenten, ihm eine kleine Mappe mit den Daten aller Mitarbeiter und Angehörigen der italienischen und vatikanischen Botschaft vor. Barudi bedankte sich, steckte die Mappe in die Schublade und rief die Sekretärin an, um einen Termin bei seinem Chef auszumachen.