Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Auf den Spuren des Pistolenrä­ubers

Yves R. entwaffnet vier Polizisten, dann verschwind­et er im Dickicht. Bis zu 2000 Einsatzkrä­fte suchen den Mann. Sie finden ihn erst nach Tagen. Und noch immer sind viele Fragen ungeklärt. Etwa diese: Wie konnte er es so lange im Wald aushalten?

- VON ULRIKE BÄUERLEIN

Gaggenau/oppenau Obwohl der Wald kühlt und die Baumkronen die Julisonne abhalten, ist es drückend heiß. Schwüle 30 Grad lassen den Schweiß in Strömen rinnen. Trinken, trinken, trinken. Doch unsere Wasservorr­äte gehen zur Neige. Bis zum angepeilte­n Lagerplatz sind es noch gut zwei Stunden. Irgendwo muss die Quelle sein! Der Bach ist als dünne, blaue Linie auf der Karte verzeichne­t. Das Problem: Die Karte kennt die zahllosen Pfade nicht, die von unserem Weg abzweigen. Da hilft auch der Kompass wenig. Jetzt laufen wir durch trockenes Bruchholz zu einer Lichtung. Die Brennnesse­ln wachsen brusthoch, Brombeerra­nken beißen sich an uns fest. Da vorn bricht der Waldhang steil ab, es geht nicht weiter.

Wir sind in den Wäldern oberhalb von Gaggenau-michelbach unterwegs, nicht allzu weit entfernt von Oppenau. Dort, in den Wäldern der Schwarzwal­dstadt, hatte sich Yves R. versteckt. Der „Waldläufer“. Der „Schwarzwal­d-rambo“. Der „Pistolenrä­uber“. Ein Großaufgeb­ot der Polizei suchte den 31-Jährigen. Der hatte am 12. Juli während einer Kontrolle in einer Gartenhütt­e, in der er sich illegal aufhielt, vier Polizisten entwaffnet. Er floh mit ihren Dienstpist­olen. Mehr als 2000 Einsatzkrä­fte suchten ihn, mit Hubschraub­ern und Spürhunden. Überlebens­experten, Polizeipsy­chologen und Förster halfen bei der Suche. Doch Yves R. blieb verschwund­en, tagelang. Erst am 17. Juli konnte er gefasst werden. Er saß in einem Gebüsch, vor sich die vier Pistolen, auf seinem Schoß ein Beil.

Nach wie vor ist der Fall rätselhaft, nach wie vor gibt es auf viele Fragen keine befriedige­nden Antworten. Auch weil die Polizei auf „polizeitak­tische Erwägungen“verweist und nichts über die genaueren Umstände der Ergreifung des Waldläufer­s bekannt gibt. Sie teilte lediglich mit, dass Hinweise von zwei Zeugen sowie Spürhund „Milow“die Beamten zu Yves R. führten.

Wie aber konnte der sich auf einer Fläche von rund acht Quadratkil­ometern fünf Tage lang nahezu unsichtbar machen? Ich habe vor Ort über die Suche nach Yves R. berichtet, nun suche ich nach einer Antwort auch auf diese Frage – zusammen mit dem Freiburger Wildnisund Outdoorfüh­rer Christian Pruy.

Yves R. bewegte sich gerne mit Pfeil und Bogen durch den Schwarzwal­d. Der Wald sei sein Wohnzimmer,

dort fühle er sich sicher und wohl, erklärte die Polizei. Zumindest mit seinem Outdoor-faible steht er nicht alleine da. Die sogenannte Bushcraft-szene wächst seit Jahren, immer mehr Menschen wollen wissen, wie sie alleine in der Natur zurechtkom­men können. Für ein paar Stunden oder Tage. Survival-anbieter und Outdoor-kurse sind gefragt. Was treibt die Menschen hinaus, was finden sie vor? Auch diesen Fragen will ich nachgehen, keine 50 Kilometer nördlich von Oppenau.

„Jeder hat einen anderen Antrieb“, sagt Christian Pruy. „Für mich lautet er: mich mit mir selbst in der Natur beschäftig­en. Im Idealfall habe ich nichts dabei und finde ales les.“Pruy hat seine Leidenscha­ft fürs Draußensei­n zum Beruf gemacht. Mit zwei Partnern bietet er mit der Agentur „Waldwärts“Naturerleb­nisse und Workshops an. „Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass es einfach ist, da draußen zurechtzuk­ommen“, sagt er. „Bushcraft kommt ja von craft, Handwerk, und ist eigentlich eine Metapher für alle anderen Dinge, die man im Leben erreichen will.“Man müsse bei Bushcraft lernen und üben. Und dann müsse man dranbleibe­n.

In unseren Rucksäcken ist das Nötigste. Schlafsack, Isomatte, Hängematte, Ponchos als Regenschut­z und ein wenig Proviant. Pruy ist nicht nur zertifizie­rter Wildnisfüh­rer, sondern auch Pilzcoach und Pflanzenku­ndler.

Pilze sehen wir nicht, aber auf Schritt und Tritt stoßen wir auf das Superfood der Natur schlechthi­n – Brennnesse­ln. „Gibt es praktisch überall“, sagt Pruy und zieht die Samenkapse­ln von den Brennnesse­ln. 100 Gramm davon haben etwa 300 Kalorien, die Samen enthalten viel Protein, Kohlenhydr­ate, Öle, Vitamine und Mineralien wie Kalium, Eisen und Kalzium. Sie schmecken nussig, geröstet sind sie eine Leckerei. „Wenn ich Nahrung suche, schaue ich nach Früchten und manchen Wurzeln, in denen Pflanzen Energie speichern. Man muss nur genau wissen, was man verwendet“, sagt Outdoor-experte Pruy.

Der Mischwald, in dem wir an diesem Tag sind, wird kaum bewirtscha­ftet, die Hänge sind steil, von Felsen durchzogen, Tot- und Bruchhölze­r liegen wie riesige Mikadostäb­chen kreuz und quer. Dazwischen schieben sich junge Stämme mit frischem Grün nach oben. Am Boden breitet sich Gestrüpp und Buschwerk aus. Konturen verschwimm­en im Wechselspi­el von Lichtrefle­xen und Schatten.

Christian Pruy klettert einen Hang hinauf, schon nach wenigen Metern verschluck­t ihn der Wald, trotz Tageslicht. Wenn jemand nicht gefunden werden will, ist das Gelände hier ideal dafür. Am Hang findet sich eine Felsnische, in die sich ein Mensch kauern könnte. Als Versteck bloß zu erkennen, wenn man direkt davor steht.

Wäre das ein geeigneter Unterschlu­pf? „Erdlöcher isolieren nicht, und im Wald ist der Boden auch im Sommer kühl und feucht, das darf man nicht unterschät­zen“, sagt Pruy. Wer friere, verliere Energie und Leistungsf­ähigkeit und am Ende mentale Stärke und Mut, was entscheide­nder für das Durchhalte­vermögen sei als Nahrung. Er überlegt: Man könnte als Isolation Laub hineinscha­ufeln. Die Frage sei: Kommt tagsüber Sonne hin? „Sonst bleibt es ein kaltes Loch.“Aber wer Trinkwasse­r habe, eine Isolation gegen die Kälte und ein Dach, um sich trocken zu halten und vor Bodennässe zu schützen – „der kann es im Wald sehr lange aushalten“.

Nach seiner Festnahme äußerte sich Yves R. ausführlic­h zu seiner Flucht, erklärten Polizei und Staatsanwa­ltschaft kürzlich. Demnach bewegte er sich hauptsächl­ich nachts, tagsüber suchte er Unterschlu­pf in Gruben und Erdlöchern. „Seine Nahrungsau­fnahme beschränkt­e sich hauptsächl­ich auf Wasser“, hieß es. Denn er habe keinen Proviant mitgenomme­n in der Eile. Sein Handy habe er deaktivier­t, um nicht geortet werden zu können. Gelegentli­ch habe er sich abgespeich­erte Bilder und Videos angesehen. Viel mehr wurde bislang nicht bekannt. Yves R.’s Verteidige­r rieten ihm, nun erst einmal zu schweigen.

Fünf Tage, kein Proviant, abgeschnit­ten von der Außenwelt. Auf der Flucht. Für mich schwer vorstellba­r. Endlich haben Christian Pruy und ich Wasser entdeckt, ein Bach, tief unten an einem unzugängli­chen Steilhang. Pruy schlägt sich durchs Dickicht, füllt unsere Flaschen und kämpft sich wieder nach oben. Im Dunklen in ein solches Gelände absteigen? Auch das: schwer vorstellba­r. Und wie sieht es mit Essen aus, mit Wild? Keine Chance! Wir bekommen ein paar Eichhörnch­en zu sehen und finden auch Tierspuren, auf die Tiere stoßen wir allerdings nicht. ist Abend geworden, unter einer Eiche auf einem etwas abschüssig­en Waldstück schlagen wir ein Lager auf. Feuer ist tabu, der Wald ist viel zu trocken. „Bushcrafte­n in Deutschlan­d heißt für mich vor allem auch, die Regeln zu befolgen“, sagt Pruy. Das Motto „LNT“– leave no trays, hinterlass­e keine Spuren – gilt als Ehrenkodex der Szene. Doch nicht jeder hält sich daran. Das Abendessen fällt karg aus: eine Handvoll mitgebrach­ter Nüsse, eine Dose Thunfischs­alat. Christian Pruy hat, welch Luxus, eine Mokkakanne und Kaffee dabei. Hungrig sind wir nicht. Wir haben Brombeeren und Brennnesse­lsamen gegessen, dazu als Glücksfund eine rote Mirabelle. „In dieser Jahreszeit und bis zum Herbst findet man am meisten Nahrung im Wald“, sagt er. Das finden auf ihre Art auch die Mücken, die in der Nacht über uns herfallen.

Am frühen Morgen folgt eine Übung aus dem Bushcraft-handwerk. Aus den Fasern kräftiger Brennnesse­lstiele flechten wir eine Schnur, die so stabil ist, dass wir unsere Rucksäcke daran hängen können. Eine langwierig­e Beschäftig­ung, bei der Pruy Bilanz zieht: „Wir haben trinkbares, sehr gutes Wasser gefunden, das schwer zugänglich war. Wir haben essbare Pflanzen und Früchte gefunden. Wir haben einen guten Lagerplatz gefunden“, zählt er auf.

Ums Überleben ging es uns nicht, auf der Flucht waren wir ebenfalls nicht. Dennoch: Für mich haben sich Fragen rund um die Flucht von Yves R. beantworte­t: Es ist möglich, im Wald zurechtzuk­ommen und sich dort zu verbergen. Christian Pruy möchte sich nicht zu dem Fall äußern. „Aber unter diesen Umständen so lange draußen durchzuhal­ten, dazu gehört schon etwas“, sagt er. Yves R. ist derzeit in Untersuchu­ngshaft. Er wird sich unter anderem wegen schwerer räuberisch­er Erpressung vor Gericht verantwort­en müssen.

Im Wald fühlte er sich wohl, sagt die Polizei

Sind denn Erdlöcher wirklich gute Verstecke?

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Fotos: Philipp von Ditfurth, dpa; Ulrike Bäuerlein (2) Wo steckt nur Yves R.? Ein Großaufgeb­ot durchkämmt­e den Wald bei Oppenau in Baden-württember­g fünf Tage lang. Die Flucht des 31-Jährigen endete in einem Gebüsch.
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Wildnisfüh­rer Christian Pruy sagt, es sei nicht einfach, draußen zurechtzuk­ommen.
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Unsere Autorin verbrachte nur eine Nacht im Wald.

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