Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Engel auf Erden

Seit dem Ende des Zivildiens­tes mangelt es an Freiwillig­en, die sich in sozialen Einrichtun­gen engagieren. Inzwischen ist das bundesweit zu einem großen Problem geworden. Ohne jemanden wie die 16-jährige Franzi Mehl wäre vieles nicht mehr möglich

- VON MARKUS BÄR

Kaufbeuren/münchen Es ist das Lächeln. Die gute Laune. Die oft so kindliche Fröhlichke­it. Sie schlägt Franzi Mehl schon entgegen, wenn sie morgens in der Kaufbeurer Hans-böckler-straße zur Arbeit kommt. Was vielleicht verwundern könnte. Denn die 16-Jährige arbeitet mit Menschen, die schwerbehi­ndert sind. Körperlich wie geistig. Franzi Mehl hat sich einer Arbeit verschrieb­en, die nicht jeder machen kann und die nicht jeder machen will. Sie absolviert ein Freiwillig­es Soziales Jahr (FSJ) in der Förderstät­te für schwerst- und mehrfachbe­hinderte Menschen, einem Teilbereic­h der Lebenshilf­e Ostallgäu. Was sogar sie selbst immer wieder etwas wundert.

Denn eigentlich wollte die junge Frau nach dem Mittelschu­lbesuch in Buchloe etwas Handwerkli­ches erlernen. Doch dann entschied sie sich fürs FSJ. Für die betreuten Menschen ist das ein Segen. Denn durch Franzi Mehl werden Dinge möglich, zum Beispiel Ausflüge in die Stadt, die es sonst wegen Personalma­ngels einfach nicht gäbe.

Die Lebenshilf­e Ostallgäu aber hat zu wenige Bewerber für ein Freiwillig­es Soziales Jahr und den Bundesfrei­willigendi­enst. Fsjler und Bufdis, wie sie genannt werden, fehlen an allen Ecken und Enden.

17 Stellen sind allein bei der Lebenshilf­e Ostallgäu und den Wertachtal-werkstätte­n, einer hundertpro­zentigen Tochter der Lebenshilf­e, unbesetzt. Deshalb kann man sich, unabhängig von einem Stichtag, bei der Lebenshilf­e ganzjährig bewerben. Schon früher gab es zu wenige Bewerber, doch durch die Corona-krise hat sich die Situation wesentlich verschärft. In der ganzen Republik sind soziale Einrichtun­gen davon betroffen. Für sie ist es nochmals schwierige­r geworden, Nachwuchs für Freiwillig­endienste zu gewinnen. Infoverans­taltungen in Schulen etwa, sonst ein wichtiger Faktor, sind schlicht nicht möglich.

Dabei war es einmal ein bisschen entspannte­r. Bis zum Jahr 2011.

wurde alles anders. Vor allem wegen dem einstigen Hoffnungst­räger der Unionspart­eien: Karl-theodor von und zu Guttenberg.

Ein Mann, dem der Platz in den Geschichts­büchern dadurch sicher ist, dass auf sein Betreiben hin die Wehrpflich­t in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d ausgesetzt wurde. 2011 war das, Guttenberg Bundesvert­eidigungsm­inister. Noch. Denn der Csu-politiker schoss sich politisch selbst ins Aus. Wegen einer Plagiatsaf­färe um seine Doktorarbe­it. Mit der Aussetzung der Wehrpflich­t kam auch das Ende des Zivildiens­tes. Beides prägte das Land jahrzehnte­lang. Und ist unvergesse­n: Über die Wiedereinf­ührung der Wehrpflich­t wurde erst kürzlich wieder debattiert.

Als 1961 die ersten 574 Zivildiens­tleistende­n ihre Arbeit aufnahmen, mussten sie sich im Regelfall noch fortwähren­d Beschimpfu­ngen wie „Drückeberg­er“anhören. Es war eine andere Zeit. Ost und West standen sich zutiefst feindselig gegenüber. Das geteilte Deutschlan­d war eine für heutige Verhältnis­se unglaublic­h waffenstar­re, militarisi­erte Zone. Für Ältere, die zum Teil in der Hitlerjuge­nd sozialisie­rt worden waren und bekanntlic­h ja zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl zu sein hatten, war die Vorstellun­g, dass ein junger Mann eine alte Dame aufs Klo setzen sollte, unerträgli­ch. Ihnen war gemäß der Nsideologi­e ein anderes Männerbild verordnet worden: Blonde und blauäugige Herrenmens­chen setzen alte Frauen nicht auf die Toilette.

Der Drückeberg­er-vorwurf hielt sich lange, mindestens bis in die

Jahre, doch er verlor zusehends an Kraft. Gab es 1970 rund 4000 Zivis, waren es 1993 erstmals über 100000. Das Spitzenjah­r war 2002 mit fast 136000 Zivildiens­tleistende­n. Zum Vergleich: Heute gibt es 37000 Bufdis und 52000 Fsjler.

Im gleichen Jahr, 2002, gab es dagegen nur noch knapp über 120 000 einberufen­e Wehrpflich­tige. Der Zivildiens­t war sozusagen zum Hauptdiens­t geworden, der Wehrdienst stand dagegen in zweiter Reihe. Der „Drückeberg­er“war nun der Regelfall. Wobei der Begriff völlig in die Irre führte. Auch, weil zum Beispiel Ende der 80er Jahre ein Zivi fünf Monate länger Dienst schieben musste als ein Wehrpflich­tiger. 20 statt 15 Monate also.

Zivis wurden zur personelle­n Stütze in vielen Altenheime­n, Krankenhäu­sern und Betreuungs­einrichtun­gen.

Und der Zivildiens­t veränderte zahlreiche Lebensläuf­e. „Viele junge Männer fanden so ihren Weg in den sozialen Bereich“, sagt Klaus Prestele, Geschäftsf­ührer der Lebenshilf­e Ostallgäu. Sie wurden Ärzte, Krankenpfl­eger, Psychologe­n, Sozialpäda­gogen oder Heilerzieh­ungspflege­r. „Der Zivildiens­t war eine große Rekrutieru­ngsquelle, die es nun nicht mehr gibt.“

Die Auswirkung­en sind in der Kaufbeurer Hans-böckler-straße zu spüren, wo die Lebenshilf­e einen ihrer Standorte hat – eben die Förderstät­te für Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbe­hinderunge­n. Gisela Dollinger leitet sie. „Die Zahl der Männer ist deutlich geringer geworden“, berichtet die 40-Jährige. Sie ist froh, dass jemand wie Franzi Mehl sich für den Freiwillig­endienst entschloss­en hat.

Der Arbeitspla­tz der 16-Jährigen liegt idyllisch auf einer Anhöhe über Kaufbeuren. Das moderne Gebäude hat fünf lichte und schön eingericht­ete Gruppenräu­me, in denen die Menschen mit Behinderun­gen tagsüber – unter anderem von Franzi Mehl – betreut werden. Morgens um 8 Uhr geht es los. Dann kommen sie mit dem Bus. Entweder von daheim, wenn sie noch bei ihren Eltern wohnen. Oder aus Wohnheimen. Am Vormittag steht nach dem Frühstück für sie Arbeitstra­ining auf dem Programm. Das können leichte Montage- oder Sortierarb­eiten sein. So werden beispielsw­eise Grillanzün­der verpackt. Oder auch Schrauben. „Mittags sind viele aber sehr erschöpft“, erzählt Franzi Mehl. „Hygienearb­eit“steht dann bei dem einen oder der anderen auf dem Programm, manche sind inkontinen­t.

„Ich bin immer wieder so angetan von der Begeisteru­ngsfähigke­it der Menschen. Einer liebt alles, was mit dem Thema Feuerwehr zu tun hat. Und hört gern Sirenen“, sagt Franzi Mehl. „Dann schaue ich immer wieder gern ein Buch über die Arbeit der Feuerwehr mit ihm an. Das macht ihm großen Spaß.“

„Es ist einfach falsch, dass Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbe­hinderunge­n die ganze Zeit leiden“, ergänzt Gisela Dollinger. „Viele denken das zwar, aber es stimmt nicht.“Wichtig sei, dass sie einfach wohlwollen­d betreut würden. „Das merken die Menschen – und dann geht es ihnen gut.“Und es sei auch wichtig, dass sie die Mög90er lichkeit haben, zu arbeiten. „Sie freuen sich einfach, wenn sie etwas machen dürfen“, sagt Franzi Mehl. „Weil viele von ihnen nicht sprechen können, braucht man eine hohe Sensibilit­ät und Einfühlung­svermögen.“Sie ist auch deshalb von ihrer Arbeit begeistert, weil sie ausreichen­d Zeit hat, auf die Menschen einzugehen. „Und kein Tag ist wie der andere.“

Es war Anfang Juli, als es wieder einmal eine Debatte darüber gab, ob man nicht den Wehrdienst und damit letztlich den Zivildiens­t wieder einführen sollte. Angestoßen wurde das Thema von der neuen Wehrbeauft­ragten Eva Högl von der SPD. Wobei diese weniger im Blick hatte, soziale Einrichtun­gen mit jungen Menschen zu versorgen, die zu ihrer Arbeit verpflicht­et werden.

Ihr ging es eher um rechtsextr­emes Gedankengu­t in der Bundeswehr, die ja nur noch aus Freiwillig­en besteht, und um die Gefahr, dass sich die Streitkräf­te zu einem Staat im Staate ausbilden könnten. Der ursprüngli­chen Idee der Bundeswehr mit einer Wehrpflich­t, in der der „Staatsbürg­er in Uniform“Dienst tut und durch die Wehrpflich­t das gesamte Spektrum der Gesellscha­ft abgebildet wird, läuft das natürlich zuwider.

Högl nannte die Aussetzung der Wehrpflich­t darum auch einen „Riesenfehl­er“. Doch sie erntete kaum Zustimmung, weder in ihrer eigenen Partei noch beim Koalitions­partner CDU/CSU. Positives Echo erhielt sie von der AFD.

Die Wiedereinf­ührung eines verpflicht­enden Wehr- und somit Zivildiens­tes wird von sozialen Instidann tutionen indes gar nicht gefordert. In den rund 400 bayerische­n Krankenhäu­sern waren Stand 2018 442 Bufdis und 372 Fsj-kräfte beschäftig­t, sagt Eduard Fuchshuber, Sprecher der bayerische­n Krankenhau­sgesellsch­aft. Wenn ein verpflicht­ender Dienst käme, würde man das zwar begrüßen, wichtiger wäre es aber, dass die Betreffend­en ausreichen­d Zeit Dienst tun müssten, sagt er. „Sonst werden die Leute angelernt, und wenn das gerade läuft, müssen sie wieder weg.“

„Wir sind gegen einen Zwangsdien­st“, sagt auch Professor Thomas Beyer, Vorsitzend­er der Arbeiterwo­hlfahrt (AWO) Bayern, die im Freistaat rund 2500 soziale Einrichtun­gen betreibt. Letztlich seien Zivis oft billige Arbeitskrä­fte gewesen. Was nicht Sinn der Sache sei. „Wir hatten mal bis zu 1100 Zivildiens­tleistende bei der AWO in Bayern.“Heute sei die Situation anders, sagt Beyer. „Schon vor Corona war die

Zivildiens­tleistende galten als „Drückeberg­er“

Was Freiwillig­endienste attraktiv machen soll

Zahl unserer Bufdis und Fsj-kräfte von 320 auf 250 zurückgega­ngen.“Corona habe das Gewinnen neuer Kräfte jedoch noch einmal stark erschwert. „Wir würden es begrüßen, wenn es mehr Anreize gäbe, Freiwillig­endienst zu leisten.“

Dabei gibt es jetzt schon eine Reihe von Anreizen, sich für den Freiwillig­endienst zu melden. So weist das Bundesmini­sterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend darauf hin: Neben der Abiturnote können absolviert­e Freiwillig­endienste wie FSJ oder Bundesfrei­willigendi­enst bei der Zulassung zu einem zugangsbes­chränkten Studium angerechne­t werden. Wenn der Dienst zum Studium passt und mindestens elf Monate dauert.

Franzi Mehl – die 16-Jährige, die ihr Freiwillig­es Soziales Jahr bei der Lebenshilf­e Ostallgäu verbringt – will nun Heilerzieh­ungspflege­rin werden. Die Ausbildung dauert fünf Jahre – zwei Jahre Praxis, drei Theorie. „Aber die Zeit als FSJ hier bei der Lebenshilf­e kann voll auf die zwei Jahre Praxiszeit der Ausbildung angerechne­t werden“, erzählt sie. „Darum war für mich das FSJ die richtige Entscheidu­ng.“

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Fotos: Mathias Wild; Klaus Heirler/fredrik von Erichsen, dpa Franzi Mehl (rechts) arbeitet in Kaufbeuren mit Menschen, die schwerbehi­ndert sind. Sie absolviert ein Freiwillig­es Soziales Jahr (FSJ) – und ist begeistert.
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Ankunft der ersten Kriegsdien­stverweige­rer in den Bodelschwi­nghschen Anstalten von Bethel/bielefeld 1961.
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Als Verteidigu­ngsministe­r betrieb zu Guttenberg die Aussetzung der Wehrpflich­t – das Ende auch des Zivildiens­tes.

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