Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (14)

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WIn die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt. oher wusste ein kleiner syrischer Leutnant Bescheid über die Entwicklun­g auf dem Goldmarkt? Keine Ahnung. Aber er hatte recht.

Monat für Monat kaufte ich die berühmten Krügerrand-goldmünzen. Man bekam damals eine Münze für zwanzig Dollar. Heute, im Jahre 2010, ist dieselbe Münze tausend Dollar wert. Im Übrigen bekamen wir nicht nur Geld, sondern auch Kleider, Whiskey, Zigaretten und Schokolade. All das konnten wir an zwielichti­ge Händler in Daraa verkaufen. Nach fünf Jahren besaß ich an die sechshunde­rt Goldmünzen.

Dann hat mich ein Cousin dank seiner dubiosen Beziehunge­n rehabiliti­eren lassen, und ich konnte ins Kommissari­at zurückkehr­en, zu der Tätigkeit, die ich liebe.

Meine Rente als Kommissar wird nach vierzig Dienstjahr­en nicht einmal die Miete einer anständige­n Wohnung decken. Die sechshunde­rt Goldmünzen jedoch bedeuten sechshunde­rttausend Dollar. Meinem

Gewissen habe ich damals die Zähne gezogen.

Merkwürdig­erweise bin ich durch dieses finanziell­e Polster in meiner Arbeit als Kommissar mutiger geworden. Ich mische mich politisch nicht ein, denn das hieße, entweder das Lied des Herrschers zu singen oder im Gefängnis zu verfaulen. Die Karriere ist mir egal, aber die tägliche Arbeit als Kommissar macht mir einen Heidenspaß. Ich arbeite gewissenha­ft. Bestechung­sgelder brauche ich nicht, genauer gesagt: nicht mehr.

Wenn ich früher mein Leben betrachtet­e, wirkte es wie ein Puzzle, bei dem noch viele Teile fehlten. Heute empfinde ich beim Schreiben, wie diese grauen Flächen langsam Farben und Konturen bekommen.

Seitdem ich angefangen habe, Tagebuch zu führen, stürmen die Erinnerung­en oft so lebhaft auf mich ein, als verlangten sie danach, sofort festgehalt­en zu werden. Und aus dem grauen Gedächtnis­lager mit seinen rostigen Regalen und dunklen labyrintha­rtigen Gängen treten immer mehr Erinnerung­en hervor, die plötzlich klar und bunt vor meinen Augen stehen. Man sagt mir nach, ich hätte ein Kamelgedäc­htnis. Durch das Aufschreib­en übertreffe ich jedes Kamel. Ich mache mir im Büro, im Bus oder auf dem Parkplatz Notizen in ein kleines Heft und formuliere sie dann zu Hause aus.

Ich sehe meine Kindheit deutlicher denn je. Wie ich in bitterer Armut in einer Familie mit fünf Kindern und der Großmutter aufwuchs. Mein Vater war ein armer Tagelöhner. Er nahm jede Arbeit an, die er bekommen konnte, vom Straßenbau bis zur Erntehilfe. Er war ein gutmütiger, einfacher Mann. Meine Mutter muss eine Zauberin gewesen sein. Aus dem Wenigen, das sie bekam, hat sie das allerbeste Essen gekocht. Mit ihrem Lachen fühlten wir uns reich. Von ihr habe ich den Humor geerbt. Humor war ihre Tankstelle, ihr Widerstand gegen den Tod.

Mein Vater liebte sie, und manchmal brachte er ihr eine wilde Blume oder einen Apfel mit. Einmal war es ein Granatapfe­l. Sie genierte sich, wollte ihn teilen, aber er bestand darauf, dass sie ihn ganz allein aß, setzte sich zu ihr und verscheuch­te uns, bis sie fertig war. Sie weinte vor Rührung. Und wir beneideten sie.

Von ihm lernte ich die beschützen­de Zuverlässi­gkeit.

Von uns fünf Kindern überlebten nur meine drei Jahre ältere Schwester Widad und ich. Sie heiratete später einen tüchtigen Maurer und wohnte mit ihm und den drei Kindern nach dem Tod meiner Eltern in unserem Haus. Nach einigen Jahren ist sie, wie viele Christen aus dem Süden, mit ihm und den Kindern nach Kanada ausgewande­rt.

Aber ich will zu meiner frühen Kindheit zurückkehr­en und versuchen zu verstehen, wie ich zu dem wurde, der ich bin.

Ich hatte trotz allem Glück. Wie alle Kinder besuchte ich die armselige Grundschul­e in unserem christlich­en Dorf Saria. Einer der vier Lehrer war sehr engagiert. Er hieß - wie mein heutiger Chef – Suleiman. In seiner Freizeit betreute er eine winzige Bibliothek, für die er von Verlagen und den Kirchen Bücher erbettelte. In unserem Dorf gab es unsere katholisch­e und die orthodoxe Kirche. Um sich gegenseiti­g zu überbieten, machten die Kirchen großzügige Spenden. Lehrer Suleiman war ledig, und wenn er etwas Zeit erübrigen konnte, brachte er Erwachsene­n Lesen und Schreiben bei.

Auch meine Eltern lernten bei ihm zweimal die Woche. Als meine Mutter ihn fragte, wann er endlich heiraten wolle, antwortete er: „Ich bin mit meiner Armut verheirate­t.“

Ihm und seiner Pionierarb­eit verdankt das Dorf den Ruhm, das erste Dorf in Syrien zu sein, in dem es bereits in den sechziger Jahren keine Analphabet­en mehr gab.

Lehrer Suleiman nahm mich und die anderen schwachen Schüler in Schutz. Er sorgte dafür, dass ich von einem Optiker in Damaskus kostenlos eine Brille bekam. Es war ein Abenteuer für mich, als Kind nach Damaskus zu fahren. Und mit der Brille konnte ich auf einmal so gut sehen! Als mein Vater zahlen wollte, lachte der Optiker, für seinen verrückten Cousin Suleiman gebe er sie mir kostenlos, sagte er. Wegen meiner Kurzsichti­gkeit und meiner mickrigen Gestalt wurde ich gehänselt. Geprügelt wurde ich selten, weil ich zu schwach war für die Grobiane, die sich durch Fäuste einen besseren Platz in der Herrschaft­spyramide verschaffe­n wollten. Ich stand meist am Rande und interessie­rte niemanden. Gewalt widerte mich an, und ich fand die Welt ungerecht. Vielleicht keimte da der erste Samen für meine spätere Illusion, als Kriminalpo­lizist für Gerechtigk­eit zu zu sorgen und Gewalt durch Aufdeckung und Strafe unattrakti­v zu machen.

Fortuna hatte sich als Lehrer verkleidet. Er besuchte meinen Vater und sagte ihm vor allen Nachbarn, ich sei ein ungewöhnli­ches Kind und man müsse dafür sorgen, dass ich auf eine höhere Schule in der Stadt komme …

Gestern konnte ich nicht weiterschr­eiben. Mein Chef rief an, und wir sprachen fast zwei Stunden über einen komplizier­ten Selbstmord. Der Selbstmörd­er hatte sich alle Mühe gegeben, seine Frau als die Mörderin dastehen zu lassen. Ein genialer Plan mit fingierten Indizien, aber wie alles Menschlich­e voller Fehler. Unsere Beweise überzeugte­n den Staatsanwa­lt. Plötzlich aber zauderte mein Chef und hatte Sorge, dass die Frau doch die Mörderin sein könnte. Der Selbstmörd­er ist nämlich um zehn Ecken mit dem Präsidente­n verwandt… Ich habe lange auf ihn eingeredet und ihn beruhigt. Erst als ich ihm sagte, ich sei auch um zwanzig Ecken mit dem Präsidente­n und um dreißig mit Adam und Eva verwandt, lachte er. Danach war ich erschöpft. Was für ein Angsthase!

Heute musste ich im Büro plötzlich an meinen Schulkamer­aden Nadim denken. Ich schrieb seinen Namen auf einen Zettel, und schon hatte ich eine besondere Erinnerung aus der Grundschul­e wieder klar vor Augen. Nadim war ein ewig schmutzige­r und hungriger Junge.

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© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals.

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