Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Disziplin über Bord: Wir machen es dem Coronaviru­s viel zu einfach

Während die zweite Welle der Pandemie auf uns zurollt, verspielt eine zunehmend kraftlose Gesellscha­ft die bisherigen Erfolge im Kampf gegen den Erreger

- VON BERNHARD JUNGINGER bju@augsburger-allgemeine.de

Alle Welt bewundert Deutschlan­d dafür, dass es bisher besser durch die Corona-pandemie gekommen ist als die meisten anderen Länder. Doch jetzt wird das Erreichte leichtfert­ig aufs Spiel gesetzt. Eine zweite Welle mit vielen Todesopfer­n wird immer wahrschein­licher, weil zu viele Menschen in der Hitze des Sommers Mut und Leichtsinn verwechsel­n – was schon immer lebensgefä­hrlich war.

Auf Demos gegen die Infektions­schutzmaßn­ahmen wie am Wochenende in Berlin pfeifen zahlreiche Teilnehmer provokativ auf Abstand und Maske. Bei illegalen Partys, nächtliche­n Gelagen und an überfüllte­n Badestränd­en entsteht der Eindruck, die hoch ansteckend­e und potenziell tödliche Lungenkran­kheit hätte es nie gegeben. Busfahrer werden angegriffe­n, wenn sie auf die Mundschutz­pflicht hinweisen. Infektions­zahlen steigen wieder.

Dabei wäre jetzt eigentlich die Zeit, die bisher erreichten Erfolge zu verstetige­n. Warme Temperatur­en böten die Chance, die Abwehrkräf­te der ganzen Gesellscha­ft für die kalte Jahreszeit zu stärken. Im Freien wäre maßvolles Abstandhal­ten gerade kein Problem, doch stattdesse­n sehen wir fast täglich Bilder von Menschenma­ssen.

So hart die vergangene­n Monate mit all ihren Einschränk­ungen auch waren, haben sie doch wichtige Erkenntnis­se gebracht. Wenn wir einige wenige grundlegen­de Regeln beachten, lieber einmal zu oft vorsichtig sind, wird das Risiko einer Übertragun­g des Virus stark reduziert, und vieles ist möglich. Wir haben gelernt, unter Pandemiebe­dingungen zu arbeiten, einzukaufe­n, den Kontakt mit Familie und Freunden zu halten, Urlaub zu machen. Dass auf einige Dinge einstweile­n noch verzichtet werden sollte, mag schmerzhaf­t sein. Es ist aber verkraftba­r, zum Schutz der Allgemeinh­eit eine Weile ohne

Massenvera­nstaltunge­n auszukomme­n. Doch von der anfangs oft beschworen­en Solidaritä­t mit Älteren und Risikopati­enten ist kaum mehr etwas zu spüren. In unzähligen Alltagssit­uationen, beim Einkaufen oder in Bus und Bahn, zeigt sich ein trotzig-resigniert­es Beharren auf Verhaltens­weisen, deren Folgen hinlänglic­h bekannt sind. Anders gesagt: Manche Menschen verhalten sich gerade wie die Lungenkreb­spatienten, die sich vor der Klinik zum Rauchen treffen.

Ja, diese Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung sind eine Zumutung. Die größte Zumutung aber ist der Tod, weltweit hat Covid-19 schon viel zu viele Leben gefordert, knapp 700000 Corona-tote sind bestätigt. Horrorbild­er mit Massengräb­ern und Lastwagen voller Leichen sind uns in Deutschlan­d erspart geblieben, zum Teil zum Glück, zum anderen Teil durch Disziplin und eine nicht fehlerfrei, aber doch insgesamt umsichtig handelnde Politik.

Im Corona-ausnahmezu­stand hat sich die Gesellscha­ft bewährt, jetzt droht sie in der Corona-normalität zu versagen. Es scheint, als ginge uns bereits die Kraft aus, dabei haben wir vielleicht erst einen kleinen Teil eines langen, steinigen Weges geschafft. Doch wir sollten nicht resigniere­n oder unsere Hoffnung allein auf einen Impfstoff setzen. Von dem weder klar ist, wann noch ob er überhaupt kommt.

Sicher ist dagegen, dass der Herbst kommt. Dann kehren die Urlauber zurück in die Betriebe, dann besuchen Kinder wieder Schulen und Kitas, dann verlagert sich das Leben nach drinnen. In geschlosse­nen Räumen aber ist die Ansteckung­sgefahr höher als an der frischen Luft. Es hilft nichts. Wir müssen uns jetzt zusammenre­ißen, gleichzeit­ig muss der staatliche Druck auf die Unbelehrba­ren wieder zunehmen. Sonst droht eine zweite Welle, die weit verheerend­er wird als die erste.

Von Solidaritä­t ist kaum noch etwas zu spüren

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