Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Spd-chefin attackiert die „Covidioten“
Unter Reichsflaggen und Hippie-tafeln protestiert eine bunte Mischung von Demonstranten in Berlin – ohne Abstand und Masken, bis die Polizei für das Aus sorgt. Und zahlreiche Politiker mit deutlichen Worten reagieren
Berlin Seit einem halben Jahr bringen Politiker und Experten in einem Kraftakt Deutschland durch die Corona-krise, erklärten geduldig das Notwendige, verteidigten Einschränkungen – und fanden überwiegend Zustimmung, trotz mancher Ungereimtheit im Detail. Doch nun scheint einigen der Kragen zu platzen: Spd-vorsitzende Saskia Esken attackiert per Twitter „Covidioten“, die sich als „zweite Welle“feiern. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) fordert härtere Strafen gegen Corona-sünder. Linken-chefin Katja Kipping sprach von einem „Aufruf zur Rücksichtslosigkeit“. Eu-kommissar Paolo Gentiloni sprach von „beängstigenden“Vorfällen. Was ist passiert? Was hat die Lage so angeheizt? Sicher nicht die Sommerhitze.
Zwar gibt es seit Wochen Kundgebungen von Gegnern strenger Anti-corona-maßnahmen in der gesamten Republik, doch die große Demonstration am Samstag in Berlin brachte eine weitere deutliche
Verschärfung mit sich: Kaum Abstand, Masken praktisch nicht zu sehen – jenseits von Vorschriften und Erkenntnissen haben Tausende gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie protestiert – bis die Polizei für das Aus sorgte. Nach Schätzungen der Polizei schlossen sich bis zu 17 000 Menschen dem Demonstrationszug an, rund 20 000 waren es danach bei der Kundgebung. Diese Zahlen scheinen aufgrund unabhängiger Beobachter sowie Auswertung von Fotound Videomaterial nachvollziehbar. Auf der Bühne war von 1,3 Millionen Teilnehmern die Rede.
Die Demonstranten forderten ein Ende aller Auflagen. Zu den Protesten unter dem Motto „Das Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“hatte die Initiative „Querdenken 711“aufgerufen. In Stuttgart hat diese bereits wiederholt demonstriert. Kritiker befürchten eine Vereinnahmung durch Verschwörungstheoretiker und Rechtspopulisten. Denn den Titel „Tag der Freiheit“trägt auch ein Propagandafilm der Naziikone Leni Riefenstahl über den Nsdap-parteitag 1935. So war in Berlin auch die von Rechtsextremen häufig verwendeten schwarz-weißroten Reichsflaggen zu sehen. Daneben wehten Deutschland- und Friedensfahnen mit Taube oder Regenbogen
über den Köpfen der Teilnehmer, die „Wir sind das Volk“, „Reiht euch ein“oder „Wir kämpfen für eure Freiheit“skandierten. Passanten mit Mund-nasen-schutz wurden teils aggressiv angegangen: „Masken weg.“Zdfjournalistin Dunja Hayali brach Dreharbeiten auf Anraten ihres Security-teams ab. Auf einem von Hayali auf Instagram geposteten Video ist zu sehen, wie Demo-teilnehmer ihr und ihrem Team „Lügenpresse“und „Schämt euch“entgegenrufen.
Aber auch Passanten reagierten. „Ihr seid solche Trottel“wurde den Demonstranten per Schild entgegengehalten. An mehreren Stellen wurden Protestzug und Gegendemonstranten von Polizisten gegeneinander abgeschirmt. „Omas gegen rechts“riefen dem Zug „Nazis raus“entgegen, der Spruch schallte als Echo zurück. Bei der Kundgebung schienen sich Hippies, Rechtsextreme oder selbst ernannte Bürgerrechtler bunt zu mischen – wieder ohne Abstand und Masken. Michael Ballweg, Gründer der Initiative, sagte zum Auftakt: „Das Freiheitsvirus hat Berlin erreicht.“Und erntete Jubel. Beim „Happening“ging es gegen „Mainstream-medien“, die „euch jeden Tag belügen“, und gegen die Politik. Der Polizei war das alles schließlich zu eng und zu wenig Hygiene: Die Kundgebung wurde für beendet erklärt. Unter Pfeifkonzerten und Buh-rufen wurden Teilnehmer zur Heimkehr aufgefordert. Als Beamte begannen, die Menge aufzulösen, wurden sie zum Widerstand aufgefordert: „Verweigert den Befehl! Vor euch steht das Volk.“Einige tausend Demonstranten wichen vor das Reichstagsgebäude und das Kanzleramt aus. Insgesamt zog sich die Auflösung bis weit in den Abend. Die Polizei bilanzierte das Geschehen am Sonntag nur zusammen mit anderen Demos wie im Bezirk Neukölln: Danach gab es insgesamt 133 Festnahmen. 125 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet – wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Landfriedensbruch oder Verwenden von Zeichen verfassungswidriger Organisationen.
Am Ende standen einhellige Reaktionen aus der Politik – nicht zuletzt angesichts schneller steigender Corona-zahlen: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kritisierte die Teilnehmer, sie setzten die Gesundheit anderer aufs Spiel. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) twitterte: „Ja, Demonstrationen müssen auch in Corona-zeiten möglich sein. Aber nicht so.“
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