Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Der Staat darf seine Bürger nicht anlügen“

Der Philosoph Julian Nida-rümelin ist Experte für Risiko-ethik und Demokratie-theorie. Er spricht über Fehler im Umgang mit Corona und erklärt, warum diese auch politisch gefährlich sind – in Deutschlan­d und weltweit

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Vor fünf Monaten haben Sie gewarnt, dass Deutschlan­d keinesfall­s dauerhaft auf den Lockdown setzen darf, dass es dauerhaft eine andere Strategie im Umgang mit Corona braucht. Wie beurteilen Sie die Lage heute?

Julian Nida-rümelin: Klar ist: Wir waren nicht gut vorbereite­t, obwohl es Grund genug gegeben hätte, sich vorzuberei­ten. Und zu kritisiere­n ist sicher der mehrfache Strategiew­echsel, den wir nach dem anfänglich verständli­chen Shutdown erlebt haben. Zuerst hieß es: Die Infektions­kurve abflachen, um die Zeit bis zum nötigen Erreichen der Herdenimmu­nität von 50 bis 70 Prozent auf möglichst viele Monate zu strecken und ohne Zusammenbr­uch des Gesundheit­ssystems durchzuhal­ten. Dann: Verlängeru­ng der Verdoppelu­ngszeiträu­me auf zehn bis 14 Tage – was rasch erfolgte. Dann: Es kommt auf den R-faktor an, also wie viele Personen durchschni­ttlich von einer infizierte­n Person angesteckt werden. Aber auch das ist kein vernünftig­es Maß, denn bei einer hohen Infizierte­nzahl kann auch bei R=1 die Katastroph­e erfolgen. Darum habe ich angemahnt, risikospez­ifisch vorzugehen. Und genau da sind wir nun zum Glück gelandet.

Was heißt das?

Nida-rümelin: Wir müssen schauen: Wo und wie groß sind welche Risiken? Und wie können wir insgesamt die Krankheits- und Todeszahle­n reduzieren ohne gigantisch­e Kollateral­schäden, die man einer Gesellscha­ft nicht zumuten kann? Die Maßnahmen müssen also lokal und zielgenau sein. Und das, so hat der Fall Tönnies gezeigt, muss nicht mal lokal einen Shutdown bedeuten – den hat ein Gericht ja wieder aufgehoben. Aber eine zentrale Maßnahme ist bislang noch mangelhaft: der Schutz für die hauptbetro­ffenen Gruppen. Was auch die Schweden verpasst und darum so hohe Sterbezahl­en haben. Immer wieder sind es Kranken- oder Pflegeeinr­ichtungen, in denen Infektions­fälle auftreten – dort haben sich 60 Prozent der Todesfälle in Deutschlan­d ereignet. Wie kann das passieren? Menschen, die sich nicht selber schützen können, werden infiziert! Und das Pflegepers­onal sagt, wir konnten uns über Wochen hinweg nicht regelmäßig testen lassen. Bemühungen wie in Bayern, wo Ministerpr­äsident Söder mit einiger Verzögerun­g doch erkannt hat, dass wir flächendec­kende Testungen brauchen, gerade um die Risikogrup­pen zu schützen – das halte ich für absolut vernünftig.

Bis der Impfstoff kommt… Nida-rümelin: Es kann natürlich sein, dass der kommt und dass sich dann jeder, zumal aus den gefährdete­n Gruppen, verlässlic­h schützen kann – was aber längst nicht bei jeder Impfung der Fall ist, etwa bei Influenza, wo die Immunisier­ungswirkun­g mit steigendem Alter stark nachlässt. Dann könnten wir wohl sagen, jetzt ist die Sache im Griff.

Und wenn nicht?

Nida-rümelin: Wenn die Pandemie saisonal wird, in Herbst und Frühjahr in neuen Wellen kommt, dann müssen wir über Ziele und Weg nachdenken, damit wir möglichst schnell durch die Wellen kommen ohne weitere Shutdowns. Denn die sind nicht zu machen, das muss jedem klar sein. Eigentlich darf es auch schon keinen zweiten mehr geben. Wenn die Welt so verführe, würden wir uns auch an den Verletzlic­hsten versündige­n, den Menschen im globalen Süden, die kein Kurzarbeit­ergeld bekommen, sondern hungern, sobald die Handelsket­ten unterbroch­en werden.

Also wie und wie schnell könnten wir durch eine Welle durchkomme­n? Nida-rümelin: Vielleicht wie bei einer Influenza, in etwa acht Wochen. Ziel sollte sein, die Sterberate von Covid-19 deutlich unter die der saisonalen Grippe zu drücken, da liegt sie etwa bei 0,1 Prozent. Im Moment sind wir bei

Covid viel höher, vielleicht drei- bis fünfmal, vielleicht noch mehr. Allerdings ist bei Influenza das Risiko extrem konzentrie­rt. Unter 60 Jahre alt ist ein winziger Teil derer, die an Corona sterben – in Deutschlan­d nur 60 bis 70 von rund 10000. Bei Jüngeren oder ohne gravierend­e Vorerkrank­ungen wie Herzinfark­t, Hirnschlag, Lungeninsu­ffizienz oder akutem Krebs gibt es fast keinen Todesfall. In Italien waren es 0,8 Prozent. Wenn es also gelänge, die Risikogrup­pen zu schützen, wäre theoretisc­h eine Absenkung der Tödlichkei­t von Covid-19 um 99 Prozent möglich. Aber auch praktisch kämen wir sicher weit unter Influenza. Und was die Jüngeren angeht: Die Grippe trifft sie übrigens viel stärker – aber da überlassen wir ihnen die Entscheidu­ng und gehen als Gesellscha­ft das Risiko ein.

Womöglich hört man von den Einzelfäll­en so viel, um auch die Jugendlich­en in die Pflicht zu nehmen… Nida-rümelin: Es gibt seit Platon die Diskussion, ob der Staat seine Bürger anlügen darf, um das Gute zu bewirken. Platon meint: Ja, weil die

Bevölkerun­g das nicht begreift. Ich bin anderer Auffassung: Der Staat darf seine Bürger nicht anlügen. Jedenfalls lebt eine Demokratie davon, dass die Menschen wahrhaftig informiert werden. Nehmen Sie die Warnung, die es zunächst vor Alltagsmas­ken gab von der WHO und vom Robert-koch-institut: Die hatte offenbar den Zweck, dass zumindest das medizinisc­he Personal noch Masken zur Verfügung hatte in den turbulente­n Anfangswoc­hen. Aber tatsächlic­h weiß man seit Jahren aus sogenannte­n maskentrag­enden Kulturen, wie segensreic­h sie wirken. Das fällt immer auf einen zurück. Hier etwa, weil sich bis heute nicht wenige an den Widerspruc­h erinnern, die Masken mitunter noch immer für nutzlos halten und sich unzuverläs­sig informiert, wenn nicht belogen fühlen. So etwas zerstört die Grundlagen der Demokratie.

Wie steht die denn nach Corona da? Gestärkt, weil eine Mehrheit gut findet, wie die Regierung reagiert, Handlungsf­ähigkeit bewiesen hat? Oder gestört, weil wir, wie manche mahnen, viel zu schnell und bereitwill­ig unsere Freiheiten preisgegeb­en haben? Nida-rümelin: In Deutschlan­d sind die demokratis­chen Institutio­nen überwiegen­d gestärkt worden. In der Kanzler-demokratie hat zuvörderst die Union profitiert. Die Extreme haben verloren. Das ist nicht in allen Ländern so und zeigt, dass das Handeln der Politik bei uns insgesamt als vernünftig empfunden wurde. Aber die Kritik darf man dennoch nicht abtun. Denn beim Aussetzen von Freiheitsu­nd Bürgerrech­ten ist immer äußerste Vorsicht geboten. Das kann in einer Notlage mal vertretbar sein, aber nur mit klarer Begrenzung und klarer Zielsetzun­g. Man darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, wie es hier passiert ist: Stellt euch jetzt mal auf eine neue Situation ein, und wir warten mal ab, wie sich das jetzt entwickelt, und vielleicht gibt es in 18 Monaten einen Impfstoff.

Mehr Auseinande­rsetzung also? Nida-rümelin: Wir haben da eine seltsame Asymmetrie erlebt. Denn es gab ja sehr heftige Auseinande­rsetzungen über die Corona-app – und die Schützer der informatio­nellen Selbstbest­immung haben sich auf ganzer Linie durchgeset­zt. Während wir andere Individual­rechte wie das Recht auf freie Berufsausü­bung, das Recht, seine sterbenden Eltern zu besuchen, das Recht auf Bildung, ziemlich nonchalant ausgesetzt oder eingeschrä­nkt haben. Wie gesagt, das muss in Ausnahmezu­ständen möglich sein. Mit welcher Selbstvers­tändlichke­it das jedoch hingenomme­n wurde, darüber kann man schon entsetzt sein.

Aber befinden wir uns nicht seit 20 Jahren im Ausnahmezu­stand? Zuerst der islamistis­che Terror, dann die Finanz-, dann die Migrations-, dann die Klimakrise, nun die Pandemie… Nida-rümelin: Darin zeigt sich globale Unordnung, die politisch kaum zu bewältigen ist. Denn wir haben zwar eine globalisie­rte Wirtschaft, aber zugleich keine politische­n Institutio­nen jenseits der Nationalst­aaten, die wirklich die Macht hätten, Strukturen zu gestalten und Verantwort­ungen wahrzunehm­en. So wiederholt sich das jedes Mal von Neuem. Wir haben die Botschaft an die Bürgerscha­ft eines Staates: „Wir gestalten, wählt uns, dann machen wir.“Dann stellt sich heraus: Es handelt sich um globale Krisen, die nur durch globale, also nicht durch nationale Strategien bewältigt werden können – und so fällt uns das immer wieder vor die Füße und schwächt die demokratis­che Bindung, das Vertrauen in die Regierende­n.

Was droht, wenn wir eine gemeinsame Weltinnenp­olitik nicht hinbringen? Nida-rümelin: Eine neue Phase der Entglobali­sierung. Die Historie hält da eine Mahnung bereit, die Weltwirtsc­haftskrise von 1929, die nicht nach ein paar Monaten überwunden war, sondern sich über Jahre fortsetzte. Und das Ergebnis waren Nationalso­zialismus und Faschismus in Europa – Renational­isierung. Klar, so weit sind wir nicht, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber wir haben eine Erosion der Demokratie in vielen westlichen Staaten, auch in solchen, in denen man es für unmöglich gehalten hätte, wie den USA und Großbritan­nien. Man kann nicht sicher sein, dass wir nicht auch, durch eine Krise getriggert, eine Dynamik bekommen, die am Ende demokratie­zerstöreri­sche Auswirkung­en hat.

Wie groß ist denn die Sorge, dass die Basis nicht mehr stark genug ist? Nida-rümelin: Wenn man sich Vorgänge etwa in Hongkong anschaut, sieht man, dass Demokratie eben nicht nur Staatsform, sondern auch Lebensform ist. Und die Menschen, die diese einmal kennengele­rnt haben, wollen an ihr festhalten. Und selbst im rechten Spektrum nimmt eine Art libertäres Denken derzeit massiv zu. Durch dieselben Leute, die dafür mitverantw­ortlich sind, dass die Demokratie erodiert, weil die Freiheitsr­echte aller in Zweifel gezogen werden. Aber ohne institutio­nell garantiert­e Freiheitsr­echte aller kann es keine Demokratie geben. Vielleicht kann gerade die Covid-19-krise da auch helfen.

Inwiefern?

Nida-rümelin: Weil viele Menschen gesehen haben, dass sich mit bloßen Kampagnen und dummem Geschwätz keine vernünftig­e Politik machen lässt. Dass die, die besonders leichtfert­ig im Umgang mit der Krise waren, Länder wie Großbritan­nien, Brasilien oder Trumps USA, jetzt ziemliche Schwierigk­eiten haben. Man lernt wieder, seriöse, abgewogene, wissenscha­ftsbegleit­ete Politik zu schätzen.

Alternativ wird von links wie rechts gerne mal ins Feld geführt, die Demokratie könnte dadurch genesen, dass sich die Politik mehr nach der Mehrheitsm­einung zu richten habe. Nida-rümelin: Als wäre eine richtige Demokratie eine, in der die jeweilige Mehrheitsm­einung zu beliebigen Themen unmittelba­r zu Politik wird. Das halte ich für falsch – und für gefährlich. Denn Demokratie ist ja nicht durch irgendeine besondere Erkenntnis­fähigkeit der Mehrheit gestiftet. Sie basiert auf einem Konsens höherer Ordnung. Das Prinzip selbst – dass man viele Konflikte löst, indem man eben eine Abstimmung macht und schaut, wo gibt es eher Zustimmung – ist nur eine Regel der kollektive­n Entscheidu­ngsfindung. Demokratie beruht darauf, dass zumindest die allermeist­en einem Gefüge aus politische­n Institutio­nen zustimmen können, in dem zum Beispiel jeder Bürger gegen den Staat klagen kann. Auch jetzt in der Corona-krise haben das viele getan und oft gewonnen. So haben die individuel­len Rechte eben nicht nur die Funktion, dass ich leben kann, wie ich möchte – sondern auch, dass sie staatliche Interventi­onen begrenzen. Denn wenn die Bürger – und sei es auch im Namen der Mehrheit – nicht die Freiheit haben, nach ihrer Vorstellun­g zu leben, also auch Risiken einzugehen beim Bergsteige­n oder wenn sie sich regelmäßig betrinken, was viele tun und uns hunderttau­sende Tote beschert: Dann handelt es sich nicht um eine Demokratie, sondern um eine Diktatur.

Interview: Wolfgang Schütz

Julian Nida-rümelin, 65, lehrt Philosophi­e in München, war im zweiten Kabinett Schröder Kulturstaa­tsminister und ist einer der profiliert­esten deutschen Denker der Gegenwart. Sein aktuelles Buch heißt „Die gefährdete Rationalit­ät der Demokratie“(Edition Körber, 304 S., 22 ¤).

Ein Vorgehen wie im Fall der Masken zerstört Grundlagen der Demokratie

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Julian Nida-rümelin lebt mit seiner Frau, der Autorin Natalie Weidenfeld, und drei gemeinsame­n Töchtern in München-oberföhrin­g.
Foto: Geisler-fotop, picture alliance Das Interview am Montag Julian Nida-rümelin lebt mit seiner Frau, der Autorin Natalie Weidenfeld, und drei gemeinsame­n Töchtern in München-oberföhrin­g.

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