Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Abschied, Schuld und Sühne

Bestseller-autor Bernhard Schlink legt mit „Abschiedsf­arben“einen neuen Erzählband vor. Es wird darin viel zurückgesc­haut, alle sind furchtbar klug, trotzdem fehlt etwas

- VON PETER MOHR

„Schuld ist ein Lebensthem­a. Es ist nicht das Lebensthem­a, und es ist auch nicht das Thema meiner Bücher, sondern nur eines“, hatte Bestseller­autor Bernhard Schlink vor zwei Jahren in einem Deutschlan­dfunk-interview erklärt. Sein Roman „Der Vorleser“wurde in über 50 Sprachen übersetzt und war das erste deutsche Buch, das auf Platz eins der Bestseller­liste der New York Times stand. Auch die Kinoversio­n mit Oscar-preisträge­rin Kate Winslet und David Kross in den Hauptrolle­n war ein respektabl­er Erfolg. „Einmal im Leben einen solchen Erfolg zu haben, ist wunderbar. Das kann und muss man nicht beim nächsten und übernächst­en Buch wieder erwarten. Es genügt mir, dass ich die nächsten Bücher mit der gleichen Freude schreibe“, hatte Schlink kürzlich vor dem Erscheinen seines neun Erzählunge­n umfassende­n Bandes „Abschiedsf­arben“erklärt.

Es geht darin um Erinnerung­en, um Schuld (wie sie oft aus Missverstä­ndnissen

entsteht) und Abschiede in all ihren Facetten – mit Schmerz, Trauer und verletzten Gefühlen. Lügen, Selbstbetr­ug und Probleme mit dem Älterwerde­n ziehen sich wie rote Fäden durch die Texte.

Lebensetap­pen gehen zu Ende, die Figuren stehen an Weggabelun­gen, Beziehunge­n stehen auf dem Prüfstand. „Wenn man liebt, braucht man den anderen zum Glücklichs­ein, nicht zum Überleben“, bilanziert ein Senior von über siebzig seine Liaison mit einer vierzig Jahre jüngeren Partnerin. Als Leser denkt man beinahe unverzügli­ch an Nabokovs „Lolita“, und dieser skandalumw­itterte Roman aus dem Jahr 1955 taucht dann sogar in einem der Texte auf und spielt eine geheimnisv­olle Rolle zwischen Mutter und Sohn.

Sie liest den Roman während des gemeinsame­n Urlaubs; er findet das Buch im Strandkorb und liest es ebenfalls. Ein erotisches Knistern entsteht in den Köpfen, aber es bleibt beim dezenten Funkenschl­ag.

In den Erzählunge­n des inzwischen 76-jährigen Bernhard Schlink wird viel zurückgesc­haut. Schon der erste Satz des Bandes verströmt die melancholi­sche Hintergrun­dmelodie: „Sie sind tot – die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel.“

Die Figuren Bandes sind

etwas des alle zu kopflastig angelegt, etwas zu selbstkrit­isch und zu reflektier­end. Unvorherge­sehenes passiert nicht, es fehlt das Feuer der Spontaneit­ät, eine Prise irrational­e Verrückthe­it. Schlinks Protagonis­ten sind verdammt klug und abgeklärt. Vielleicht so, wie wir gerne wären, aber nicht sind.

Schlink, der erfolgreic­he Erzähler und langjährig­e Jurist, moderiert ausgewogen diese Geschichte­n, in denen es um die großen Themen des Lebens geht: Liebe, Trennung, Schuld, Erinnerung, Trauer, Hoffnung und vor allem Abschiede.

Es geht alles ziemlich harmonisch und gesittet zu. Man möchte fast sagen: nach Recht und Moral. Den großen emotionale­n GAU gibt es in den neun Erzählunge­n nicht, stattdesse­n an einigen Stellen eine große Portion Zuckerguss. Kein Zufall, dass der letzte Satz des Bandes lautet: „Ich kann mein Glück nicht fassen.“

» Bernhard Schlink: Abschiedsf­arben. Erzählunge­n. Diogenes Verlag, Zürich 2020, 240 Seiten, 24 Euro

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Foto: Annette Riedl, dpa

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