Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (16)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
Eines Tages las ich eine Anzeige der Polizeiakademie. So wurde ich zuerst Polizist und später Kriminalpolizist. Erst in Aleppo und dann in Damaskus.
In den letzten Jahren vor dem Abitur hat mich meine Mutter genervt. Wenn ich aus Aleppo zu Besuch kam, war immer „zufällig“irgendein Mädchen samt Eltern zum Kaffee eingeladen. Die Mädchen ähnelten alle irgendwie meiner Mutter. Ich stellte mich dumm. Eines Tages wurde es mir zu viel. Ich drohte, nicht mehr zu Besuch zu kommen, wenn sich weitere solche Zufälle ereignen sollten. Von da an war Ruhe.
Dann tauchte Nadia auf…
Ich war bereits auf der Polizeiakademie und besuchte meine Schwester. Eines Tages, ich glaube, es war kurz vor Ostern, kam ich wieder zu Besuch ins Dorf und trug im Gottesdienst meine Ausgehuniform. Nadia saß in der Kirche in der Bank vor mir. Sie drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Sie war achtzehn, ich dreiundzwanzig. Kurz darauf verabredeten wir uns und gingen gemeinsam lange spazieren. Wir stellten fest, dass unsere Anschauungen in vielem übereinstimmten. Ich begann von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen und schrieb ihr viele Briefe. Nach drei Monaten veränderte sich etwas. Meine besorgten Fragen beantwortete sie nicht, sagte nur, die Leute würden viel reden. Ich schlug ihr vor, mich offiziell mit ihr zu verloben, damit niemand mehr etwas zu lästern hätte. Sie antwortete nicht. Meine Schwester Widad lieferte eine gnadenlose Erklärung. Nadia betrüge mich mit dem charmanten neuen Lehrer der höheren Schule.
Bald wollte Nadia mich nicht mehr sehen. Eine ihrer besten Freundinnen verriet mir den Grund: Nadia sah ihre Zukunft an der Seite eines Lehrers rosiger als an der eines Polizeioffiziers. Sie heiratete ihn in Windeseile und brachte ein gesundes „Sechsmonatskind“zur Welt. Es ging das Gerücht, ihr
Vater habe den Bräutigam verprügelt, als dieser die Hochzeit verschieben wollte, und in der Kirche stand er vor aller Augen mit einer Doppelflinte hinter dem Brautpaar für den Fall, dass es sich der Bräutigam im letzten Augenblick anders überlegte. Als der Pfarrer den Bräutigam fragte, ob er Fräulein Nadia zur Ehefrau nehmen und bis zum Ende seine Tage lieben wolle, antwortete der Vater: „Ja, er will.“Die Antwort des Bräutigams ging im Gelächter der Anwesenden unter.
Auch heute noch muss ich lachen, wenn ich daran denke.
7. Im Schildkrötengang
Zwei Tage später sollte Barudi am Abend seinen Lieblingsspruch wiederholen: Wenn der Morgen im Arsch ist, kann der Mittag nicht nach Rosen duften. Und er hat dabei wie immer gelacht, obwohl ihm nicht nach Lachen zumute war.
Nabil, sein eifriger Mitarbeiter, hatte für ihn herausgefunden, der Express-verleih führe bei Privatkunden nicht Buch und gebe jedem gegen eine gewisse Summe Bargeld und das Vorlegen eines Personalausweises den Wagen, den er wünsche.
Aus Sorge, im Verkehrschaos stecken zu bleiben, war Kommissar Barudi sehr früh losgefahren. Damaskus aber war immer für eine Überraschung gut: Der Verkehr lief in geordneten Bahnen gemächlich dahin, ohne Stau. Die Ampeln funktionierten tadellos, und die Autofahrer zeigten eine fast englische Höflichkeit.
„Sind wir hier in der Schweiz!“, rief Barudi erstaunt, als er das ruhige, elegante Viertel Abu Rummaneh erreichte. Er war selbst nie bei den Eidgenossen gewesen, aber Ordnungsliebe und Korrektheit verband er immer mit der Schweiz. Seine Schweizer Uhr hatte er vom reichen Cousin seines Vaters zum Abitur geschenkt bekommen und sie funktionierte auch vierzig Jahre später noch tadellos.
Barudi war also eine Stunde früher als gewollt vor Ort. Damaszener kommen entweder zu früh oder zu spät. Es war eiskalt. Er schaute in den grauen Himmel und verfluchte seinen Leichtsinn, ohne Mantel aus dem Haus gegangen zu sein. Und so parkte er in der Nähe der Botschaft vor dem eleganten Lokal „Au Bon Café“.
Er nahm die Tüte mit dem Pistaziengebäck für den Botschafter, betrat das Café und setzte sich dankbar ins Warme. Eine fast sadistische Zufriedenheit erfüllte ihn beim Anblick der Passanten, die draußen frierend vorbeieilten.
Wie sauber die Straßen hier sind! Wie elegant und gepflegt die grünen
Rasenflächen in den Vorgärten und auf den Verkehrsinseln!, staunte er. Neugierig beobachtete er die Amseln und Spatzen, die gelassen und furchtlos auf dem Boden herumpickten. In seinem lebendigen alten Wohnviertel hatten die Vögel keine Ruhe, Kinder und Erwachsene stellten ihnen nach, erschreckten sie manchmal aus Spaß. Hier gehörten anscheinend auch die Vögel der Upperclass an. Doch plötzlich sprang eine graue Katze aus dem Nichts und schnappte sich eine der Amseln. Der arme Vogel schlug noch kurz mit den Flügeln, dann hing er leblos in ihrem Maul.
Barudi bestellte, um sich dem vornehmen Viertel entsprechend zu verhalten, beim Kellner einen Cappuccino. Dann zog er die beiden gefalteten Blätter aus seiner Jackentasche und überflog noch einmal die Informationen, die seine Assistenten ihm über seinen Gesprächspartner zusammengestellt hatten: Mario Saleri, Mitte sechzig, war in einem Dorf der Provinz Verona geboren. 1980 war er Priester geworden, hatte danach in Rom Jura und Geschichte studiert. Er schrieb seine Doktorarbeit über die katholische Kirche in China. Unter seinem Förderer, Papst Johannes Paul II., bekam er die Bischofsweihe und wurde erst in Wien und dann in Afrika zu einem erstrangigen Diplomaten.
2008 bestellte ihn Papst Benedikt XVI. zum Apostolischen Nuntius, dem Botschafter des Vatikans, in Syrien. Er sprach zwar schlecht Arabisch, verstand aber alles. Saleri war ein hartgesottener konservativer Katholik. Gegenüber dem Islam zeigte er sich neutral bis positiv, nicht aber gegenüber der evangelischen oder der orthodoxen Kirche.
Barudi faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Innentasche seiner Jacke zurück. Er ließ seinen Blick über die Straße wandern, nichts als Kälte! Nach einer Dreiviertelstunde zahlte er und verfluchte den Wirt. Für das Geld hätte er in seinem Wohnviertel vier Tassen Kaffee oder ein warmes Gericht bekommen. Vielleicht ist es eine Strafe der Götter, dachte er, wegen meiner sadistischen Haltung gegenüber den Passanten.
Vor der Rente wollte Kommissar Barudi seinen Goldschatz nicht anrühren. Er verdiente wenig und doch genug, dass er, ohne sich zu verschulden, bescheiden leben konnte.
Die syrische Lira hatte keine Kaufkraft mehr. Als er vor über vierzig Jahren Abitur machte, hatte man einen Dollar gegen drei Lira gewechselt. Heute war ein Dollar fünfzig Lira wert. Und die Preise galoppierten.