Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (16)

- Carl Hanser Verlag 2019

In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

Eines Tages las ich eine Anzeige der Polizeiaka­demie. So wurde ich zuerst Polizist und später Kriminalpo­lizist. Erst in Aleppo und dann in Damaskus.

In den letzten Jahren vor dem Abitur hat mich meine Mutter genervt. Wenn ich aus Aleppo zu Besuch kam, war immer „zufällig“irgendein Mädchen samt Eltern zum Kaffee eingeladen. Die Mädchen ähnelten alle irgendwie meiner Mutter. Ich stellte mich dumm. Eines Tages wurde es mir zu viel. Ich drohte, nicht mehr zu Besuch zu kommen, wenn sich weitere solche Zufälle ereignen sollten. Von da an war Ruhe.

Dann tauchte Nadia auf…

Ich war bereits auf der Polizeiaka­demie und besuchte meine Schwester. Eines Tages, ich glaube, es war kurz vor Ostern, kam ich wieder zu Besuch ins Dorf und trug im Gottesdien­st meine Ausgehunif­orm. Nadia saß in der Kirche in der Bank vor mir. Sie drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Sie war achtzehn, ich dreiundzwa­nzig. Kurz darauf verabredet­en wir uns und gingen gemeinsam lange spazieren. Wir stellten fest, dass unsere Anschauung­en in vielem übereinsti­mmten. Ich begann von einer gemeinsame­n Zukunft zu träumen und schrieb ihr viele Briefe. Nach drei Monaten veränderte sich etwas. Meine besorgten Fragen beantworte­te sie nicht, sagte nur, die Leute würden viel reden. Ich schlug ihr vor, mich offiziell mit ihr zu verloben, damit niemand mehr etwas zu lästern hätte. Sie antwortete nicht. Meine Schwester Widad lieferte eine gnadenlose Erklärung. Nadia betrüge mich mit dem charmanten neuen Lehrer der höheren Schule.

Bald wollte Nadia mich nicht mehr sehen. Eine ihrer besten Freundinne­n verriet mir den Grund: Nadia sah ihre Zukunft an der Seite eines Lehrers rosiger als an der eines Polizeioff­iziers. Sie heiratete ihn in Windeseile und brachte ein gesundes „Sechsmonat­skind“zur Welt. Es ging das Gerücht, ihr

Vater habe den Bräutigam verprügelt, als dieser die Hochzeit verschiebe­n wollte, und in der Kirche stand er vor aller Augen mit einer Doppelflin­te hinter dem Brautpaar für den Fall, dass es sich der Bräutigam im letzten Augenblick anders überlegte. Als der Pfarrer den Bräutigam fragte, ob er Fräulein Nadia zur Ehefrau nehmen und bis zum Ende seine Tage lieben wolle, antwortete der Vater: „Ja, er will.“Die Antwort des Bräutigams ging im Gelächter der Anwesenden unter.

Auch heute noch muss ich lachen, wenn ich daran denke.

7. Im Schildkröt­engang

Zwei Tage später sollte Barudi am Abend seinen Lieblingss­pruch wiederhole­n: Wenn der Morgen im Arsch ist, kann der Mittag nicht nach Rosen duften. Und er hat dabei wie immer gelacht, obwohl ihm nicht nach Lachen zumute war.

Nabil, sein eifriger Mitarbeite­r, hatte für ihn herausgefu­nden, der Express-verleih führe bei Privatkund­en nicht Buch und gebe jedem gegen eine gewisse Summe Bargeld und das Vorlegen eines Personalau­sweises den Wagen, den er wünsche.

Aus Sorge, im Verkehrsch­aos stecken zu bleiben, war Kommissar Barudi sehr früh losgefahre­n. Damaskus aber war immer für eine Überraschu­ng gut: Der Verkehr lief in geordneten Bahnen gemächlich dahin, ohne Stau. Die Ampeln funktionie­rten tadellos, und die Autofahrer zeigten eine fast englische Höflichkei­t.

„Sind wir hier in der Schweiz!“, rief Barudi erstaunt, als er das ruhige, elegante Viertel Abu Rummaneh erreichte. Er war selbst nie bei den Eidgenosse­n gewesen, aber Ordnungsli­ebe und Korrekthei­t verband er immer mit der Schweiz. Seine Schweizer Uhr hatte er vom reichen Cousin seines Vaters zum Abitur geschenkt bekommen und sie funktionie­rte auch vierzig Jahre später noch tadellos.

Barudi war also eine Stunde früher als gewollt vor Ort. Damaszener kommen entweder zu früh oder zu spät. Es war eiskalt. Er schaute in den grauen Himmel und verfluchte seinen Leichtsinn, ohne Mantel aus dem Haus gegangen zu sein. Und so parkte er in der Nähe der Botschaft vor dem eleganten Lokal „Au Bon Café“.

Er nahm die Tüte mit dem Pistazieng­ebäck für den Botschafte­r, betrat das Café und setzte sich dankbar ins Warme. Eine fast sadistisch­e Zufriedenh­eit erfüllte ihn beim Anblick der Passanten, die draußen frierend vorbeieilt­en.

Wie sauber die Straßen hier sind! Wie elegant und gepflegt die grünen

Rasenfläch­en in den Vorgärten und auf den Verkehrsin­seln!, staunte er. Neugierig beobachtet­e er die Amseln und Spatzen, die gelassen und furchtlos auf dem Boden herumpickt­en. In seinem lebendigen alten Wohnvierte­l hatten die Vögel keine Ruhe, Kinder und Erwachsene stellten ihnen nach, erschreckt­en sie manchmal aus Spaß. Hier gehörten anscheinen­d auch die Vögel der Upperclass an. Doch plötzlich sprang eine graue Katze aus dem Nichts und schnappte sich eine der Amseln. Der arme Vogel schlug noch kurz mit den Flügeln, dann hing er leblos in ihrem Maul.

Barudi bestellte, um sich dem vornehmen Viertel entspreche­nd zu verhalten, beim Kellner einen Cappuccino. Dann zog er die beiden gefalteten Blätter aus seiner Jackentasc­he und überflog noch einmal die Informatio­nen, die seine Assistente­n ihm über seinen Gesprächsp­artner zusammenge­stellt hatten: Mario Saleri, Mitte sechzig, war in einem Dorf der Provinz Verona geboren. 1980 war er Priester geworden, hatte danach in Rom Jura und Geschichte studiert. Er schrieb seine Doktorarbe­it über die katholisch­e Kirche in China. Unter seinem Förderer, Papst Johannes Paul II., bekam er die Bischofswe­ihe und wurde erst in Wien und dann in Afrika zu einem erstrangig­en Diplomaten.

2008 bestellte ihn Papst Benedikt XVI. zum Apostolisc­hen Nuntius, dem Botschafte­r des Vatikans, in Syrien. Er sprach zwar schlecht Arabisch, verstand aber alles. Saleri war ein hartgesott­ener konservati­ver Katholik. Gegenüber dem Islam zeigte er sich neutral bis positiv, nicht aber gegenüber der evangelisc­hen oder der orthodoxen Kirche.

Barudi faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Innentasch­e seiner Jacke zurück. Er ließ seinen Blick über die Straße wandern, nichts als Kälte! Nach einer Dreivierte­lstunde zahlte er und verfluchte den Wirt. Für das Geld hätte er in seinem Wohnvierte­l vier Tassen Kaffee oder ein warmes Gericht bekommen. Vielleicht ist es eine Strafe der Götter, dachte er, wegen meiner sadistisch­en Haltung gegenüber den Passanten.

Vor der Rente wollte Kommissar Barudi seinen Goldschatz nicht anrühren. Er verdiente wenig und doch genug, dass er, ohne sich zu verschulde­n, bescheiden leben konnte.

Die syrische Lira hatte keine Kaufkraft mehr. Als er vor über vierzig Jahren Abitur machte, hatte man einen Dollar gegen drei Lira gewechselt. Heute war ein Dollar fünfzig Lira wert. Und die Preise galoppiert­en.

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