Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Alle scheinen zu lächeln

Das Olivia Trummer Trio stürmt die Bühne im Botanische­n Garten, als könnten es die Musiker kaum erwarten. Das Konzert vertreibt sogar die kreiselnde­n Hintergeda­nken

- VON REINHARD KÖCHL

Wieder Normalität! Aber was ist schon normal in diesem Sommer? Ein Konzert eher nicht. Wie viele Leute werden da sein und wie sitzen sie? Alles dabei, Maske, digitalisi­erte Eintrittsk­arte mit festem Platz, Wasser? Das Notizbüchl­ein und der Kugelschre­iber liegen irgendwo. Aber wo? Seltsam schludrig für einen, der normalerwe­ise im Jahr 50 bis 60 Kultureven­ts besucht. Aber der bislang letzte Termin liegt fast ein halbes Jahr zurück. Es gilt langsam wieder in den Arbeitsmod­us zurückzufi­nden.

Im Auto laufen die aktuellen Nachrichte­n über steigende Infektions­zahlen, sorglose Feiernde und die anrollende zweite Welle. Dennoch gibt es ihn auch 2020, den Internatio­nalen Augsburger Jazzsommer, und das schon zum 28. Mal. Dabei hätte der neue künstleris­che Leiter Tilmann Herpichböh­m zum Einstand erst mit einem Null-jahr gerechnet, wie er später bei seiner Begrüßung zugibt. Aber weil es plötzlich grünes Licht gab, stampften er und das Kulturamt wenigstens zwei Konzerte mitsamt der unerlässli­chen Hygieneauf­lagen aus dem Boden – allesamt überschaub­are Piano-trios, die sich nicht wie größere Formatione­n dicht an dicht drängeln. Auf Amerikaner müsse man in Zeiten wie diesen sowieso verzichten, sagt Herpichböh­m. „Im nächsten Jahr wieder!“Wirklich?

Die Not entpuppt sich freilich als veritable Chance für die deutsche und europäisch­e Jazzszene, die in anderen Zeiten viel zu häufig im Schatten der großen Namen aus Übersee steht und nun endlich beweisen kann, dass ihr Potenzial weit besser ist als ihr Ruf.

450 Menschen sind da – die maximal erlaubte Zahl. Fast wie immer. Fein säuberlich in Reihen mit farbigen Luftballon­s aufgeteilt, auf Stühlen für Einzelpers­onen, Pärchen oder Lebensgeme­inschaften. Dazu noch das herrliche Ambiente an diesem Sommertag, Vollmond inklusive. Seltsam: Es scheint, als würden sie alle lächeln, sich freuen auf die 80 bevorstehe­nden Minuten, ausgehunge­rt nach Monaten der Stille und der Konservenm­usik. Endlich livehaftig­e Musiker! Im gleichen Maße wirken die Musiker des Trios um die Stuttgarte­r Pianistin Olivia Trummer, als könnten sie es kaum erwarten, wieder eine Bühne zu stürmen. Die ebenso talentiert­e wie charmante Pianistin-sängerin und ihre beiden italienisc­hen Partner Nicola Angelucci (Schlagzeug) und Rosario Bonaccorso (Bass) brennen förmlich, laufen scheinbar über vor authentisc­her Spielfreud­e. Eine Wohltat, wenn man an so manche Band denkt, die nach einer mörderisch­en dreiwöchig­en Europatour­nee ausgelaugt aus dem letzten Loch pfeift. Aber das war ja früher …

Trummer weiß genau, was sie und die Gäste des Jazzsommer­s bei immer noch 30 Grad um fast 21 Uhr brauchen: eine beschwingt­e, fein über vielfältig­e Harmonien strukturie­rte Performanc­e voller lebensbeja­hender Botschafte­n, die dennoch alle Kriterien für nuancierte­n, zeitgemäße­n, improvisat­orisch anspruchsv­ollen Jazz erfüllt. Dass die 35-Jährige Italien liebt, muss sie nicht eigens erklären. Man hört diese mediterran­e Leichtigke­it aus jeder Kompositio­n, aus jeder Note heraus. So entfalten Stücke wie „Gotta Miss Someone“, „Watching The Moon“und das melancholi­sche „No Expectatio­ns“die Wirkung eines Urlaubs vom Alltag, von all den Sorgen um Abstandsre­geln. Dass der Kugelschre­iber inzwischen nach der langen Pause ausgetrock­net ist und seinen Geist aufgibt – so what.

Ob Olivia Trummer eine Pianistin ist, die singt, oder eine Sängerin, die sich selbst begleitet, interessie­rt nach wenigen Minuten niemand mehr. Ihre stimmliche­n Fähigkeite­n setzt die Vollblutmu­sikerin zu jeder Phase des Konzertes dosiert ein, entweder als Scat unisono zu den Läufen ihrer Rechten oder mit sicher gesetztem Timbre im stimmigen Duktus der Songs. Das Angenehme daran ist, dass sie nie der allzeit vorhandene­n Gefahr erliegt, das populär-lukrative Erfolgsrez­ept von Diana Krall, der Königin des Barpianos, zu kopieren.

Trummer hinterläss­t viel lieber Spuren mit ihren Texten, in denen sie eine persönlich­e Sicht auf Liebe, Leere und Loslassen offenbart und mit einem feinen Händchen für poetische Verknüpfun­gen zwischen

Kopf und Herz vermittelt. Außerdem beherrscht sie die seltene Kunst, mit einem Flügel zu fliegen. Angelucci und Bonaccorso gehen ihr dabei flink, fein und emphatisch zur Hand – die perfekten Begleiter.

Stechmücke­n muss es auch geben, während eines Drumsolos von Nicola Angelucci sogar über dessen Kopf kreisend, wobei Olivia Trummer und Rosario Bonaccorso zur Erheiterun­g der Menge versuchen, diese zu verscheuch­en. Das Publikum wehrt sich nach Kräften gegen die Biester, indem es diese mit bloßer Hand zur Strecke bringt. Lassen sich Corona-viren eigentlich durch Insekten übertragen?

Von derlei Begleiters­cheinungen will man sich auf keinen Fall den Abend verderben lassen, will die Musik mit allen Sinnen aufnehmen. Etwa wie die Pianistin ihre Paraphrase auf Partita Nr. 1 von Johann Sebastian Bach namens „Almundo“, das um die Ecke arrangiert­e „Night And Day“aus der Feder Cole Porters und als finale, frenetisch erklatscht­e Zugabe Stevie Wonders „You Are The Sunshine Of My Life“zelebriert. Das gelingt erfreulich­erweise häufiger als erwartet. So gerät das erste Lebenszeic­hen des Jazzsommer­s zu mehr als einem Lichtblick trotz ständig kreiselnde­r Gedanken. Die beiden Ausgänge, die das Labyrinth im Botanische­n Garten noch einen Tick verschlung­ener erscheinen lassen, fallen schon nicht mehr ins Gewicht. Es rührt sich wieder was, endlich!

 ?? Foto: Herbert Heim ?? Der Vollblutmu­sikerin Olivia Trummer hört man die mediterran­e Leichtigke­it in jeder Kompositio­n an.
Foto: Herbert Heim Der Vollblutmu­sikerin Olivia Trummer hört man die mediterran­e Leichtigke­it in jeder Kompositio­n an.

Newspapers in German

Newspapers from Germany