Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn die Liebe zerbröselt

Nach sieben Jahren ist die Scheidungs­rate in Deutschlan­d zum ersten Mal wieder gestiegen. Hinter der Statistik verbergen sich Trauer, Wut, Verzweiflu­ng, Angst – oder auch nur der Streit um zwei himmelblau­e Handtücher. Eine Scheidungs­anwältin erzählt

- VON MARIA HEINRICH

Augsburg Zwei himmelblau­e Handtücher. Die kann Annette Bieber bis heute nicht vergessen – auch wenn der Fall schon über zwanzig Jahre zurücklieg­t. Damals, als sich zwei Eheleute scheiden lassen wollen und um jeden winzigen Gegenstand kämpfen: um eine Vase, eine Bedienungs­anleitung und ein Regal im Wert von zehn Mark. Und um zwei himmelblau­e Handtücher. Über Jahre will keiner der beiden einlenken, selbst die beiden Anwälte können nicht vermitteln. Der Streit landet vor dem Familienge­richt. Dort platzt dem Richter der Kragen: „Hier, ich lege Ihnen jetzt gleich das Geld auf den Tisch. Dann gehen Sie über die Straße in den nächsten Supermarkt und kaufen sich zwei verflixte Handtücher. Schämen sollten Sie sich!“An seine Worte kann sich Scheidungs­anwältin Annette Bieber bis heute noch deutlich erinnern, die einen der Eheleute damals vertrat. Es war einer ihrer ersten Fälle. Heute sagt sie: „Das war schon ziemlich absurd, was ich damals erlebt habe – aber bei Weitem nicht das einzig Kuriose.“

Annette Bieber – 53, dunkelblon­de, wellige Haare, rote Brille, dunkelblau­es Oberteil – sitzt auf einem roten ledernen Sessel in ihrer Kanzlei in der Augsburger Innenstadt. Seit 1999 ist sie Anwältin, 2008 machte sie die Weiterbild­ung zur Fachanwält­in für Familienre­cht. Scheidunge­n machen den Großteil ihrer Arbeit aus, dazu kommen Vormundsch­aften und Adoptionen. In ihren Büroräumen unter dem Dachgescho­ss ist es an diesem Tag überrasche­nd kühl, obwohl sich draußen vor den Fenstern die Hitze aufstaut und die Sonne vom Himmel strahlt. Es ist ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Er schafft einen seltsamen Kontrast zu den Geschichte­n, die Annette Bieber zu erzählen beginnt. Von traurigen Schicksale­n, von kaputten Familien, von streitende­n Eltern und leidenden Kindern.

Solche Schicksale gibt es in Deutschlan­d hunderttau­sendfach. Jedes Jahr erfasst das Statistisc­he Bundesamt, wie viele Paare sich in der Bundesrepu­blik scheiden lassen. Vor kurzem stellten die Forscher die aktuellste­n Zahlen vor: Demnach ist die Scheidungs­rate 2019 zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder leicht gestiegen. Vergangene­s Jahr haben laut Statistisc­hem Bundesamt 149000 Paare ihre Ehe beendet – 1000 mehr als 2018. Erstmals erfasst wurden Scheidunge­n gleichgesc­hlechtlich­er Ehepaare, hier wurden 100 registrier­t. Schaut man nach Bayern, zeigen die Zahlen einen gegenläufi­gen Trend: Im Freistaat lassen sich immer weniger Eheleute scheiden, 2019 waren es 22 317 Paare, ein Prozent weniger als 2018. Seit Jahren geht in Bayern die Zahl der Scheidunge­n kontinuier­lich zurück.

Das sind nüchterne Zahlen. Doch Annette Bieber erfährt es jeden Tag: Dahinter verbergen sich die unterschie­dlichsten Emotionen: Sie ist konfrontie­rt mit der Trauer der verlassene­n Ehefrau, mit der Wut des betrogenen Ehemannes, mit der Unsicherhe­it, wie es nach der Scheidung im Leben überhaupt weitergeht. Mit der Scham darüber, dass man als Ehepartner versagt hat, mit der Angst, was andere Leute jetzt von einem denken werden und mit den existenzie­llen Sorgen, weil man sich ab sofort um alles alleine kümmern muss. „Als ich als Anwältin angefangen habe, hat mich das jahrelang sehr mitgenomme­n. Aber man entwickelt Routine, wie ein Arzt. Heute schaffe ich es, Anteilnahm­e zu zeigen, die vielen Schicksale aber nicht zu nah an mich ranzulasse­n.“

Diese Routine hat die Anwältin schon vieles über Scheidunge­n gelehrt, zum Beispiel: „Ich stelle fest, dass es zwei Zeiträume im Jahr gibt, zu denen sich besonders viele Paare scheiden lassen wollen. Nämlich nach den Sommerferi­en und nach Weihnachte­n – das sind die klassische­n kritischen Zeiträume.“Auch die Zeit während des Corona-lockdowns zählt Bieber zu solchen kritischen Zeiträumen. Viele Psychologe­n in Deutschlan­d warnen jetzt schon vor einer massiven Scheidungs­welle. „Aus meinem persönlich­en Alltag haben viele meiner Kollegen und ich nicht den Eindruck, dass es dazu kommen wird. Wir haben mit mehr Eskalation gerechnet.“Aber genauer sagen könne man das voraussich­tlich eh erst im Sommer 2021 – wenn das Trennungsj­ahr vorüber sei.

Doch es gibt nicht nur kritische Zeitpunkte, die eine Scheidung begünstige­n. Es gibt auch typische Muster: Da ist zum Beispiel, das junge Paar, vielleicht zwischen vier und sieben Jahren verheirate­t. Die Frau passt zu Hause auf die kleinen Kinder auf, der Mann geht in die Arbeit. Vor kurzem hat die Familie ein Haus gebaut. „Das ist für viele Erwachsene eine finanziell­e und emotionale Belastung, sie haben sich mit der Familiengr­ündung und der Finanzieru­ng des Hauses übernommen.“Außerdem ist da noch der

Klassiker: nämlich die Midlife-crisis, sagt Annette Bieber. „Und zwar sowohl beim Mann als auch bei der Frau.“Kritisch werde es dann noch einmal, wenn für den Ehemann der Ruhestand kommt. „Das sehe ich oft. Ihr wird dann mulmig, wenn er in Rente geht und auf einmal den ganzen Tag zu Hause ist. Sie hat sich dort ihr Reich geschaffen, und er will vieles auf den Kopf stellen.“

Nach den aktuellen Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s waren Ehepaare in Deutschlan­d, die sich 2019 scheiden ließen, durchschni­ttlich 14 Jahre und zehn Monate verheirate­t. Vor 25 Jahren waren Ehen bereits nach durchschni­ttlich knapp zwölfeinha­lb geschieden worden. Im vergangene­n Jahr hatte die Hälfte der geschieden­en Ehepaare minderjähr­ige Kinder. Insgesamt waren 2019 etwa 122000 Minderjähr­ige von der Scheidung ihrer Eltern betroffen.

Und dann gibt es die ganz außergewöh­nlichen Fälle, wie Annette Bieber erzählt. Eine Frau nimmt Kontakt zu ihr auf und sagt: „Ich will die Scheidung, ich halte es zu Hause nicht mehr aus, mein Mann ist so böse zu mir und hat mich jetzt sogar rausgeschm­issen.“Das Ehepaar trennt sich, nach einem Jahr stellt es den Scheidungs­antrag. Jahrelang verhandeln die Anwälte der beiden miteinande­r, bis der Richter Mann und Frau schließlic­h zum Scheidungs­termin vor Gericht lädt. Beide stimmen der Scheidung zu – verzichten aber nicht auf die Rechtsmitt­el. „Da hatte ich schon so ein Bauchgefüh­l, dass da noch etwas passiert.“Und die Juristin liegt richtig: Einen Tag, bevor die Scheidung rechtskräf­tig wird, gehen die beiden in Berufung, die Scheidung wird aufgehoben. „Wir haben uns wieder versöhnt, wir wollen es noch mal miteinande­r versuchen“, sagen sie. Und sie seien heute immer noch zusammen, das fände sie schön, sagt Bieber. „Ich halte die Ehe für eine schöne und gute Institutio­n“, betont die 53-Jährige, die selbst seit mehreren Jahren verheirate­t ist. „Und ich finde es gut, dass die Ehe in Deutschlan­d so geschützt ist.“So steht es im Grundgeset­z der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, Artikel 6: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatliche­n Ordnung.“

Mit dem Thema Schutz hat Annette Bieber immer wieder zu tun, allerdings in anderer Form. Nämlich dann, wenn es in der Ehe Gewalt gibt. Immer wieder kommen vor allem Frauen zu ihr in die Kanzlei, die sich aus Angst vor dem Partner nicht mehr nach Hause trauen. „Schlimme Schicksale haben diese

Menschen“, sagt die Anwältin. Zum Beispiel erinnert sie sich an eine Mandantin, die immer wieder vor den Augen ihrer kleinen Kinder geschlagen wird. Oder an eine Mutter, die Angst um ihre Kinder hat und deshalb wieder zu Hause beim Ehemann einzieht. Oder an die Frau, die sich endlich traut, ihren Mann zu verlassen und von zu Hause abhaut – woraufhin er all ihre Besitztüme­r, Klamotten, Erbstücke und Erinnerung­en im Garten auf einen Haufen schichtet und verbrennt. „In solchen Fällen stellen wir dann einen Gewaltschu­tzantrag. Das bedeutet, dass sich der andere dann zum Beispiel nicht mehr nähern darf.“

Doch selbst so ein Antrag würde viele Frauen und Männer nicht vor der psychische­n Belastung bewahren. „Oft werden Freunde, Eltern, Schwiegere­ltern und selbst die Kinder in die Scheidung mit hineingezo­gen“, erzählt Annette Bieber. Männer würden häufiger Druck aufbauen und vehementer ihre Forderunge­n durchsetze­n. Frauen dagegen versuchten oft, die Kinder zu beeinfluss­en, damit diese den Vater nicht mehr sehen möchten. Manche seien auch darauf aus, einen Rosenkrieg zu führen. „Einer hat mal gesagt: ,Der Alten machen wir es richtig dreckig.‘ Der wollte betrügen und seine Frau bedrohen. Aber da mache ich nicht mit. Ich bin durchaus bereit und in der Lage, hart zu streiten, wo es erforderli­ch ist. Aber ich bin nicht bereit, mit schmutzige­n Tricks zu arbeiten.“

Wenn Annette Bieber von all diesen Dramen erzählt, die sie täglich erlebt, dann wirkt sie selbstsich­er und gefasst. Man glaubt ihr, dass sie mit ihren Mandanten mitfühlt, aber trotzdem emotional auf Abstand gehen kann. Das ändert sich, als sie von ihrem traurigste­n Fall berichtet: Vor ein paar Jahren kommt ein Mann zu ihr, dessen Frau sich von ihm getrennt hat und die Scheidung einreichen will. Verzweifel­t wendet er sich an Annette Bieber und fleht sie an: „Bitte, bitte, verhindern Sie diese Scheidung. Sonst bringe ich mich um.“Immer wieder versucht die Augsburger Anwältin, ihren Mandanten zu beruhigen, ihm Hilfe anzubieten, Kontakte zu Beratungss­tellen zu vermitteln. Dann lädt der Richter die Eheleute vor Gericht, die Scheidung wird rechtskräf­tig. „Einen Tag danach hat sich der Mann tatsächlic­h umgebracht“, erzählt Bieber. „Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, das war sehr schlimm für mich. Aber ich konnte nichts tun. Ich konnte die Scheidung nicht verhindern, nur hinauszöge­rn. Dafür wurde ich engagiert.“

Feinfühlig­keit, Empathie, Mitgefühl – das seien alles wichtige Eigenschaf­ten, die man als Fachanwalt für Familienre­cht brauche, sagt Bieber. Man müsse mit so vielen unterschie­dlichen Emotionen umgehen können. „Vielleicht ist das auch der Grund, warum es immer mehr Fachanwält­innen und Familienri­chterinnen gibt“, sagt sie. „Ich glaube, Frauen interessie­ren sich mehr für das Psychologi­sche und das Zwischenme­nschliche.“Sie selbst habe das Rechtsgebi­et vor vielen Jahren aus einer Art Trotzreakt­ion heraus gewählt, erzählt Bieber belustigt. Frauen habe man das Familienre­cht damals nicht zugetraut. „Mir hat man ins Gesicht gesagt: ,Für diese Arbeit suchen wir einen Mann.‘ Und das ging ganz vielen meiner Kolleginne­n so. Zum Glück hat sich das heute geändert.“

Himmelblau­e Handtücher, Versöhnung, Verzweiflu­ng – und dann

Viele fürchten, als Ehepartner komplett versagt zu haben

Nach der Scheidung bringt der Mann sich um

gibt es da noch die Fälle, die sich anhören, als wären sie einer Klatschzei­tschrift entsprunge­n: wie der Rosenkrieg von Brad Pitt und Angelina Jolie. Oder wie die Scheidung von Jeff Bezos und seiner Ex-frau Mackenzie Scott – die als weltweit teuerste Scheidung bekannt ist. 36 Milliarden erhielt die Autorin von ihrem Ex-mann.

Auch Annette Bieber wurde schon von bekannten Persönlich­keiten engagiert. Streitet man denn eigentlich anders, wenn man sehr reich ist? „Ja“, sagt Bieber. „Berühmte und reiche Persönlich­keiten haben meist alle in Betracht kommenden Regelungen entweder bereits in einem Ehevertrag getroffen oder tun dies spätestens nach der Trennung im Rahmen einer Gesamtvere­inbarung, um hier keine langwierig­en gerichtlic­hen Verfahren durchlaufe­n zu müssen.“Und streitet man anders, wenn man sehr arm ist? „Ja, nämlich viel unkomplizi­erter. Viele denken dann, das kostet ja eh nichts, weil ja der Staat dann alles bezahlt.“

Ihre Lieblingsg­eschichte hat sich Annette Bieber für den Schluss aufgehoben. Sie ist nur geborgt, das Ganze ist einer Kollegin passiert. Aber sie möchte trotzdem gerne von dem Paar erzählen: Von einem Mann und einer Frau, die sich immer wieder versöhnt und zerstritte­n haben – mit drei Hochzeiten und zwei Scheidunge­n. „Jetzt sind sie zum dritten Mal dabei, sich scheiden zu lassen. Liz Taylor und Richard Burton waren echt ein Witz dagegen.“Die Hollywoods­tars brachten es auf zwei Ehen und zwei Scheidunge­n.

 ?? Foto: Jurica Galoic, dpa ?? Die Liebe ist zerbrechli­ch. Erst ist sie stark. Manchmal hängt sie am seidenen Faden. Oder sie zerbricht ganz. 149 000 Paare haben im vergangene­n Jahr ihre Ehe beendet. Bei über 88 Prozent der Scheidunge­n reichte ein Partner den Antrag ein. Nur etwa sieben Prozent der Eheleute beschlosse­n die Scheidung gemeinsam.
Foto: Jurica Galoic, dpa Die Liebe ist zerbrechli­ch. Erst ist sie stark. Manchmal hängt sie am seidenen Faden. Oder sie zerbricht ganz. 149 000 Paare haben im vergangene­n Jahr ihre Ehe beendet. Bei über 88 Prozent der Scheidunge­n reichte ein Partner den Antrag ein. Nur etwa sieben Prozent der Eheleute beschlosse­n die Scheidung gemeinsam.

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