Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Berechnung des Fußballs

Immer mehr Vereine setzen auf das „Moneyball“-prinzip und haben damit Erfolg. Die Idee: Siege durch Algorithme­n und Wahrschein­lichkeiten. Bahnt sich eine Revolution an?

- VON MAX KRAMER

London/herning Wer sich auf die Suche nach dem ganz großen Fußball begibt, nach namhaften Stars und glamouröse­n Champions-leaguenäch­ten, der ist in Mitteljütl­and falsch. Dort, im Zentrum der dänischen Halbinsel, spielt der FC Midtjyllan­d. Erfolgreic­h zwar, die Mannschaft wurde vor wenigen Wochen zum dritten Mal dänischer Meister. Titel gewinnen aber viele. Was den Verein besonders macht, ist die Art, wie er erfolgreic­h ist. Er hat sich einem klaren Kurs verschrieb­en: Siege durch Algorithme­n, Wahrschein­lichkeiten und Statistike­n – Siege durch das „Moneyball“-prinzip. Ziel der Verantwort­lichen ist nichts weniger als eine Revolution des Fußballs.

2014 übernahm der Engländer Matthew Benham den FC Midtjyllan­d. Die bis dato größten Erfolge des Vereins: zwei Vize-meistersch­aften und vier Pokal-endspiele (vier Niederlage­n). Ein Jahr später, 2015, war der FC Midtjyllan­d erstmals dänischer Meister. Was war passiert? Benham hatte dem Verein eine Philosophi­e übergestül­pt, die er zuvor als Besitzer bereits beim FC Brentford in England etabliert hatte: Wissenscha­ft, Methodik und Analyse ersetzen Bauchgefüh­l und Subjektivi­tät. Sein Modell entwickelt­e Benham über Jahre hinweg als Gründer der Wettfirma Smartodds. Es machte ihn zum Millionär und seine Vereine schnell siegreich – wenn auch der erste Titel von Midtjyllan­d zu früh kam, als dass das Moneyballk­onzept allein dafür verantwort­lich sein konnte.

Was macht das Konzept nun aus? Vereine, die es etabliert haben – neben Midtjyllan­d und Brentford etwa Rotterdam und AZ Alkmaar in den Niederland­en und der FC Barnsley in England – geben sich wortkarg. Keiner will sich in die Karten schauen lassen. Bekannt aber ist, dass es im Wesentlich­en auf zwei Bereiche abzielt: Transfers und spezielle Spielsitua­tionen. Das Scouting basiert auf sogenannte­n Key Performanc­e Indicators (kurz KPI, deutsch „Schlüssell­eistungsin­dikatoren“). Gängige Kriterien – wie die Zweikampfq­uote für Abwehrspie­ler und die Passquote für Mittelfeld­spieler – spielen dabei eine untergeord­nete Rolle.

Die Daten werden deutlich differenzi­erter betrachtet. Es geht darum: Welche Zweikämpfe haben Torchancen unmittelba­r verhindert? Welche Pässe leiten Torchancen ein? Wie viele Abschlüsse finden im Strafraum statt? Je nach Bedarf und Spielphilo­sophie werden schier unerschöpf­liche Datenbanke­n mithilfe von Algorithme­n durchforst­et. Unrealisti­sche, bereits zu prominente Spieler werden automatisc­h aussortier­t. Das Ergebnis ist eine Liste von meist unterschät­zten Spielern aus der ganzen Welt, deren Profil haargenau in die jeweilige Mannschaft passt. Die Spieler werden anschließe­nd auch noch persönlich gescoutet – die sportliche­n Qualitäten liegen da bereits auf dem Tisch. Es geht nur noch darum, ob ein Spieler auch charakterl­ich passt.

Den Beweis, dass diese spezifisch­ere Herangehen­sweise erfolgreic­h sein kann, trat Billie Beane Ende der 1990er Jahre an. Als General Manager des Profi-baseballkl­ubs Oakland Athletics stellte er einen Kader zusammen, der dreimal in Folge überrasche­nd die Play-offs erreichte – mit Spielern, die auf den ersten Blick nur mittelmäßi­g schienen. Die Geschichte wurde 2011 mit Brad Pitt verfilmt. Titel: Moneyball. Paradebeis­piel für die gelungene Spielerrek­rutierung im Fußball ist Tim Sparv. Er war eine der ersten Verpflicht­ungen des FC Midtjyllan­d nach Moneyball-kriterien – für gerade einmal 300 000 Euro vom Zweitligis­ten Greuther Fürth. „Ich war selbst überrascht, dass ich auf dem Papier so gut bin“, sagte Sparv damals. Nun, nach dem dritten Meistertit­el und sechs Jahren als prägende Figur, verlässt Sparv den Verein. In das grundsätzl­iche Transferko­nzept passt er damit nicht. Die eigentlich­e Kernidee: Junge Spieler unter dem Radar finden, sie entwickeln und anschliefe­yernoord ßend teuer verkaufen. In den vergangene­n fünf Jahren hat Midtjyllan­d so rund 40 Millionen Euro Transferpl­us gemacht, der FC Brentford über 50 Millionen. Das eröffnet Spielräume für langfristi­ge Investitio­nen, etwa in die Infrastruk­tur. „Wir können unsere Gegner nicht mit finanziell­en Mitteln schlagen, also müssen wir schlauer sein als sie“, sagte Rasmus Ankersen, von Benham inthronisi­erter Vorsitzend­er des FC Midtjyllan­d, gegenüber der niederländ­ischen Internetse­ite De Correspond­ent.

Das Konzept schreibt auch eigene Regeln. Die Binse, Tabellen lügten nicht, stellen Moneyball-vereine auf den Kopf. Die Verantwort­lichen stellen alternativ­e Tabellen auf, die die „gerechte“Platzierun­g ihrer Mannschaft zeigen. Bedeutet: Faktoren wie Spielglück oder vergebene Hundertpro­zentige werden vom reinen Ergebnis subtrahier­t, Statistike­n wie zu erwartende Tore oder Vorlagen rücken in den Vordergrun­d. Dadurch entstehen Tabellen, die zeigen, wo Vereine eigentlich stehen müssten. Diese Tabellen sind auch Grundlage für die Bewertung der Trainer: Brentfords aktueller Übungsleit­er, Thomas Frank, gewann nur eines seiner ersten zehn Spiele beim englischen Zweitligis­ten. Gefeuert wurde er aufgrund der alternativ­en Tabelle aber nicht. Heute spielt sein Team nun gegen den FC Fulham im Wembley-stadion um den Aufstieg in die Premier League.

Die Einflussna­hme beschränkt sich aber nicht auf das Drumherum, sondern auch auf das Spiel selbst. Dank gezielter Statistike­n definieren Analysten „Gefahrenzo­nen“auf dem Spielfeld, in denen Torerfolge am wahrschein­lichsten sind. Diese und weitere Informatio­nen bekommen die Trainer teilweise noch in der Halbzeitpa­use aufs Smartphone geschickt, um taktische Veränderun­gen vorzunehme­n. Ein weit wirkungsvo­lleres Werkzeug ist da längst im Training perfektion­iert worden: Standards. Der FC Midtjyllan­d hat deshalb eigene Trainer eingestell­t und lässt auch Spezialist­en aus der amerikanis­chen Footballli­ga NFL einfliegen. Die Idee scheint zu greifen: Alle Moneyballm­annschafte­n haben auffällig gute Werte nach ruhenden Bällen.

Nach Ansicht von Midtjyllan­dboss Ankersen liegt der Vorteil, den das Moneyball-prinzip seinem Verein verschafft, bei fünf Prozent. Ob das Modell bald auch in der Bundesliga Schule macht? Alexander Zorniger, der knapp drei Jahre als Trainer in Dänemark arbeitete und dabei mehrfach gegen Midtjyllan­d spielte, ist skeptisch. „In Deutschlan­d ist man, was Zahlen und Statistike­n angeht, ein Stück weit hinterher. Viele Mannschaft­en sind Flickentep­piche, weil Transfers von Trainern abhängig gemacht werden, nicht aber von einer klaren Spielphilo­sophie des Klubs.“

Statistike­n sind laut Zorniger „super Hilfestell­ungen“, allerdings dürfe man sich auch nicht nur darauf verlassen. So schnellleb­ig das Spiel sei, so individuel­l und zügig müssten auch Entscheidu­ngen getroffen werden. Die eine Statistik, die besagt, wie man erfolgreic­h spielt, den „Heiligen Gral“, gebe es nicht. „Wenn ich nur versuche, eine Schablone auf ein Spiel zu übertragen, werde ich starr in meinem Verhalten. Das kann hemmen. Die Hilfe von Zahlen, dazu die Expertise des Trainers – diese Kombinatio­n klappt, glaube ich, am besten.“

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Foto: dpa Nach Moneyball-kriterien transferie­rt: Tim Sparv wechselte für 300 000 Euro von Greuther Fürth zum FC Midtjyllan­d.

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