Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (21)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
Sie hat mich mit ihrem Zauber befreit. „Wenn du heimkommst, sagst du vor der Haustür dreimal: Ich pfeife auf die Kriminalpolizei, und du wirst sehen, es hilft“, riet sie mir und lächelte dabei.
Ohne ein Wort des Tadels hat sie mich dazu erzogen, mit ihr alle Hausarbeit zu teilen. Ich konnte und kann nicht kochen, aber saubermachen, spülen, einkaufen und Kleider flicken und Geräte reparieren. Das hat ihr gefallen.
Basma war ein Genie der Einfachheit, der bescheidenen Freuden. Ein Film, ein Theaterstück, ein Buch oder eine Lästerstunde bei Tee und Erdnüssen waren für sie das Glück auf Erden.
Und dann kam der Tag, an dem sie mir eröffnete, sie wolle ein Kind von mir. Ich weiß das Datum auch heute noch: Es war Samstag, der 11. Mai 1985. Im Scherz sagte sie, sie wolle es haben, bevor sie zu alt dafür sei. Sie habe mit ihrer Chefin gesprochen und könne auf einen Halbtagsjob
wechseln. Eine ihrer Tanten könnte das Kind oder die Kinder betreuen. „Falls ich dreimal Zwillinge hintereinander bekomme“, fügte sie hinzu und lachte.
Aber es kam kein Kind. Es lag an mir. Bei der Untersuchung stellte der Arzt fest, dass ich wegen einer Mumpserkrankung mit neun Jahren unfruchtbar war. Die bittere Gewissheit bekamen wir im Herbst 1987.
Schuldgefühle plagten mich, da ich Basmas Wunsch nicht erfüllen konnte. Ein Kind adoptieren wollte sie nicht. Sie lebte auch weiter zufrieden an meiner Seite und schien die Sache mit den Kindern vergessen zu haben. Dann kam jener blutige Montag. Es war der 10. September 1990. Auch dieses Datum hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
An diesem Tag ging bei der Kriminalpolizei ein Hinweis ein, Hani Faruki halte sich in einem Gebäude in der Amin-straße auf. Ich hatte ihn bereits drei Jahre lang vergeblich gejagt. Hani war ein mehrfacher kaltblütiger Mörder, der am Tatort stets einen Hinweis zurückließ: Er ritzte seine Initialen mit einem scharfen Messer in die Stirn seiner Opfer. Ich fuhr mit drei meiner Kollegen in die Amin-straße. Gerüchte machten uns das Leben schwer: Hani Faruki töte im Auftrag der Regierung. Diese entledige sich ihrer Gegner und unangenehmen Partner durch solche professionellen Killer, und die Kriminalpolizei sei eingeweiht. Die Ermordeten waren wichtige Politiker oder bekannte Händler, und in zwei Fällen hatte Hani Professoren getötet, die an einer geheimen Militärforschung mitarbeiteten.
Ich hielt das alles für eine Erfindung, und wie sich später zeigen sollte, hatte ich recht. Hani Faruki war ein Psychopath, seine Opfer wählte er bei der Lektüre der Tageszeitung aus. Diese Zeitungen fand man später in seiner Wohnung, ordentlich gestapelt, der Name und manchmal sogar das Foto der prominenten Opfer waren mit rotem Filzstift umkreist.
Wir fuhren mit einem Zivilfahrzeug und ohne Blaulicht in die Amin-straße, parkten in der Nähe und schlichen ins Haus. Doch der Mörder war bereits informiert, irgendjemand hatte den Einsatz verraten. Hani Faruki eröffnete das
Feuer. Zum Entsetzen der Beamten war er mit einer Kalaschnikow, zwei Pistolen und mehreren Handgranaten bewaffnet.
Er versuchte, über das Flachdach zu entkommen. Die Feuerschutztür war verschlossen und so stürmte er in die nächste Wohnung und nahm die ganze Familie als Geisel. Die Nachbarn informierten uns: Es handelte sich um ein Ehepaar um die dreißig und ihren zehnjährigen Sohn.
Hani Faruki wollte nicht aufgeben, und so nahm die Katastrophe ihren Lauf. Ich stand mit meinen Kollegen im Treppenhaus und war dabei, die Spezialeinheiten der Polizei zu Hilfe zu rufen. Da wurde Leutnant Hassan, ein junger Polizeioffizier, am Oberarm von einer Kugel gestreift, drehte durch und rannte los. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Schüsse fielen. Ich stürmte mit den zwei anderen Kollegen in die Wohnung. Es war gespenstisch still. Der tote Kollege lag auf dem Boden im Flur, das Ehepaar, das der Mörder als menschlichen Schutzschild missbraucht hatte, lag ein paar Meter weiter. Der Verbrecher selbst hatte sich mit dem zehnjährigen Sohn in der Küche verbarrikadiert. Durch das Küchenfenster konnte er nicht entkommen, die Wohnung lag im dritten Stock. Er blutete stark, aber er wollte weder aufgeben noch die letzte Geisel freilassen. Als die Spezialeinheiten vorrückten, das Haus weiträumig abriegelten und ein paar Scharfschützen heraufkamen, war er bereits in Ohnmacht gefallen. Der Junge hatte sich aus seiner Umklammerung befreit und kam herausgerannt. Er lief geradewegs in meine Arme, schrie und war wie von Sinnen. Ich drückte ihn fest an mich, sprach beruhigend auf ihn ein und streichelte ihm den Kopf.
Das herbeigeeilte Rettungsteam konnte nur noch den Verbrecher in Empfang nehmen.
Später hieß es im Protokoll, Leutnant Hassan sei in die Wohnung gestürmt, als der Mörder anfing, die Geiseln zu erschießen. Das stimmte nicht, aber der Ruf des toten Kollegen war gerettet, und seine Witwe bekam eine Rente.
Wenn man mich im Lauf meiner Berufstätigkeit nach Absurditäten fragte, so erzählte ich immer die Geschichte von Hani Faruki, dem mehrfachen Mörder, den man aufwendig am Leben erhielt, nur um ihn, als er sich erholt hatte und geheilt war, hinzurichten.
Der Junge wollte zu niemandem außer zu mir. Sobald ein anderer ihn anfasste, schrie er und schlug wie verrückt um sich. Er klebte geradezu an mir. Mein damaliger Chef bat mich, das Kind für ein paar Tage zu mir nach Hause zu nehmen. Nirgends konnte man Verwandte ausfindig machen.
Nie werde ich den Moment vergessen, als die Kollegen mein Büro verließen und ich mit dem Jungen allein blieb. Er klammerte sich an mich wie an einen Rettungsring. In dem Moment bemerkte ich das Klopfen unserer Herzen. Sie schlugen im gleichen Rhythmus. Seltsam. Aber ich hatte es mir nicht eingebildet. Der Junge spürte es auch, er drückte mich fester, schaute zu mir hoch und lächelte.
„Lass uns nach Hause gehen“, sagte ich.
Gestern konnte ich nicht mehr schreiben. Ich habe geweint, dann trank ich zu viel Wein. Heute will ich weitererzählen.
Ich nahm den hübschen Jungen mit nach Hause.
„Wie heißt du?“, fragte Basma ihn und bot ihm ein Glas Limonade an. Er lächelte blass. „Scharif“, antwortete er und blickte schüchtern zu Boden. Er ahnte nicht, dass Basmas Herz in diesem Augenblick von aller Liebe dieser Erde erfüllt war. Für sie war er ein Geschenk des Himmels.
In den nächsten Tagen war Basma wie verändert. Sie besorgte die Papiere für Scharif und meldete ihn in einer der besten Schulen an.