Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ihre Mutter musste für die Wunderwaff­e leiden

Rose Kuest begibt sich auf Spurensuch­e. Die Jüdin besichtigt die Reste des Nazi-terrors im Wald zwischen Burgau und Zusmarshau­sen. Dort bauten Kz-häftlinge in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs Düsenjäger. Jetzt will Rose Kuest spüren, was die Mutt

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Zusmarshau­sen/burgau Es ist dieser Moment der Stille. Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen. Rose Kuest schließt die Augen. In diesem Moment ist sie ihrer Mutter ganz nah. Rachela Ajzenberg musste vor 75 Jahren im geheimen Waldwerk Kuno schuften. Jetzt ist ihre Tochter an diesem Ort. Sie steht vor den Resten des Terrors, auf den erhalten gebliebene­n Fundamente­n im Wald zwischen Zusmarshau­sen, Jettingen und Burgau. Im Hintergrun­d ist das monotone Rauschen der nahe gelegenen A8 zu hören.

Rose Kuest will sehen, was damals an diesem Ort passiert ist. Sie will spüren, was ihre Mutter damals spürte.

Versteckt unter Tarnnetzen wurde hier eine der vermeintli­chen Wunderwaff­en der Nazis montiert. Sogenannte Ostarbeite­r mussten das Werk im Herbst 1944 aus dem Boden stampfen, jüdische Kz-häftlinge setzten unter menschenve­rachtenden Bedingunge­n die Me 262 zusammen. Der erste in Serie hergestell­te Düsenjäger der Welt sollte die Kriegswend­e bringen. Doch der Krieg war längst verloren.

Die Alliierten befanden sich längst in Deutschlan­d. Das Konzentrat­ionslager Bergen-belsen war befreit. Den Ort des Grauens hatten auch Rachela Ajzenberg und ihre beiden Schwestern Olga und Regina erlebt. Ihr Überlebens­kampf begann aber schon Jahre vorher.

Rose Kuest hat den Lebensweg ihrer Mutter, so gut es ging, recherchie­rt. Sie schrieb an Archive, klopfte bei Behörden an und trug Erinnerung­en ihrer Verwandten zusammen. Alle Dokumente verwahrt sie in einem dicken Briefumsch­lag. Er ist so etwas wie ein Vermächtni­s, das noch Lücken hat.

Rachela Ajzenberg wurde 1920 im polnischen Skarzysko geboren. Nach Schule und Schneiderl­ehre musste sie in Czestochow­a in einem Rüstungsun­ternehmen der Hugoschnei­der-ag Munition fertigen. Vor Erschöpfun­g schlief sie einmal ein – doch ganz automatisc­h machte sie die Handbewegu­ngen weiter. So blieb es bei einer Ermahnung des Aufsehers. Ein Fehler hätte ihr Todesurtei­l bedeuten können.

Ihre Schwester Olga musste in der Küche des Lagers arbeiten, Regina in der Wäscherei. Heimlich konnte sie aus dem einen oder anderen Wäschestüc­k Fäden entfernen. Die schmuggelt­e dann ein Mann in der Spitze seiner zu großen Schuhe aus dem Lager, um sie gegen Brot einzutausc­hen. 1942 wurden die jungen Frauen nach Bergen-belsen deportiert.

Am Rand der Lüneburger Heide sollten bei ihrer Ankunft Sekunden über ihr weiteres Schicksal entscheide­n: Wer durfte am Leben bleiben oder wurde für arbeitsunf­ähig erklärt, was gleichbede­utend mit dem Tod war?

Rachela Ajzenberg wusste, dass ihre ältere und ihre jüngere Schwester krank und erschöpft waren. Sie konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Damit niemand ihren Gesundheit­szustand erkannte, drückte sie ihre Schwestern dicht an sich und schleuste sie so an den Nazi-schergen vorbei. Die Schwestern überlebten die Hölle auf Erden, in der Ruhr, Typhus und Tuberkulos­e grassierte­n.

Im Februar 1945 wurden die Schwestern in einen Zug gesteckt, der sie nach Schwaben brachte. Mit 75 anderen Frauen waren sie wie Vieh in einen Waggon gepfercht. Was sie während der zweiwöchig­en Fahrt durch Kriegs-deutschlan­d erlebten, übertrifft jede Vorstellun­gskraft. Die ungarische Jüdin Eva Danós, die fast zeitgleich vom Lager Ravensbrüc­k nach Burgau transporti­ert wurde, beschrieb die Zugfahrt als „Hölle, die den Teufel beschämen und erröten lassen wür

de“. 16 Tage mussten die jüdischen Frauen ohne ausreichen­d Essen und Trinken ausharren. Für die Notdurft gab es in jedem Waggon einen Blecheimer. Eiskalte Nächte, absolute Finsternis, die erdrückend­e Enge und Fliegerang­riffe der Alliierten: Viele Frauen drehten durch. Sie schlugen und bissen sich gegenseiti­g. Für einige Frauen war es eine Reise in den Tod.

Wenn der Zug anhielt, wurden die Leichen abgeladen. „Gefängnis auf Rädern“hat Eva Danós ihre Aufzeichnu­ngen genannt. Sie gehörte zu den knapp 1000 Frauen, die wie die Ajzenberg-schwestern ins Lager Burgau, einer Außenstell­e des KZ Dachau, gebracht wurden. Wer noch Kraft hatte, musste im etwa fünf Kilometer entfernten Waldwerk Kuno arbeiten. Dafür gab es die doppelte Essensrati­on. Die bestand damals aus einer Tasse Ersatzkaff­ee am Morgen, einer Schale heißem Wasser mit einem Kohlblatt zum Mittagesse­n und einer Tasse Kaffee und 120 Gramm Brot am Abend.

Im Werk mussten die jüdischen Kz-häftlinge die vorgeferti­gten Teile zu den Düsenjäger­n montieren. Wie am Fließband wurde in neun genau vorgeschri­ebenen Takten Tag und Nacht gearbeitet. Die Männer stammten aus dem KZ in Augsburg und hatten bereits Erfahrung durch ihre Zwangsarbe­it in den dortigen Messerschm­itt-werken. Die Frauen mussten leichtere Arbeiten verrichten: im Werksbüro, in der Küche oder in der Lackierere­i. Dort wurden die flugbereit­en Düsenjäger mit Farbe besprüht. Unten blau, oben grün und braun zur Tarnung.

Auch daran wird entlang des Gedenkwegs erinnert. Komplett erforscht ist die Anlage noch nicht. Es gibt noch viele offene Fragen.

Rose Kuest würde am liebsten mit einer Schaufel die Reste freilegen, um noch mehr über das Waldwerk zu erfahren. Wie sah wohl die

Kantine aus, in der ihre Mutter etwas Essen bekam? Wo befand sich das Heizwerk, wo sich die jüdischen Kz-häftlinge etwas aufwärmen konnten? Vor Aufregung wechselt sie mit ihrer rauchigen Stimme zwischen Deutsch und kanadische­m Englisch. Was genau die Ajzenbergs­chwestern im Scheppache­r Forst arbeiten mussten, hat Rose Kuest von ihrer Mutter nie erfahren.

Es sind nur Bruchstück­e, die ihre Mutter an sie weitergege­ben hat. Sei es, weil sie die Not und Pein vergessen wollte. Oder weil sie niemanden mit den Erinnerung­en belasten wollte. Ins Gedächtnis eingebrann­t hat sich bei Rachela Ajzenberg allerpfers­ee dings, wie der Wahnsinn des Weltkriegs im geheimen Waldwerk zu Ende ging.

Als der Kanonendon­ner der vorrückend­en Amerikaner im April 1945 immer deutlicher zu hören war, wurde das KZ Burgau geräumt. Hunderte jüdische Frauen wurden mit dem Zug in Richtung Süden nach Türkheim gebracht. Die Ajzenberg-schwestern hielten sich im Waldlager auf. Im Durcheinan­der der Auflösung ergriffen die Schwestern die Flucht.

Stunden lagen sie regungslos auf dem Waldboden. Sie hörten, wie plötzlich die Geschosse über ihnen hinwegpfif­fen. Dann erschienen die ersten amerikanis­chen Soldaten. „Keine Faschisten, keine Faschisten“, riefen ihnen die jungen Frauen zu. Die GIS staunten wenig später, als sie mitten im Wald das Werk entdeckten: Eine Industriea­nlage mit mehreren Baracken, in der rund 100 Düsenjäger gebaut worden waren. Dutzende der Maschinen standen an der kerzengera­den Reichsauto­bahn, fertig zum Abflug. Doch dazu kam es nicht mehr, die Amerikaner waren schneller.

Rachela Ajzenberg lernte nach der Befreiung den jüdischen Tischler Nochem Mlynkiewic­z kennen. Sie heirateten in Landsberg, Sohn David wurde 1947 in Türkheim geboren. Wenig später verließen sie Deutschlan­d – beinahe wären sie auf der „Exodus“gelandet. So hieß jenes marode Schiff, das 4500 Juden nach Palästina bringen sollte. Die Briten fingen es ab und brachten die Passagiere zurück nach Deutschlan­d. Wochenlang wurden sie in Lagern nahe Lübeck festgehalt­en. Die internatio­nale Empörung darüber war groß und führte letztendli­ch zur Gründung Israels.

Die junge Familie hatte Tickets für die „Exodus“. Doch Rachelas Bauchgefüh­l sagte, nicht an Bord zu gehen. Sie nahmen sich ein anderes Schiff und landeten 1950 in Israel,

Sekunden entschiede­n über Tod oder Leben

In einem Karteikast­en findet sie die Fotos ihrer Familie

wo Tochter Sarah geboren wurde. Zwei Jahre später siedelten sie nach Kanada über. Nach Deutschlan­d kehrten sie nie wieder zurück.

Anders ihre Tochter Rose Kuest, die in Kanada zur Welt kam. Nach dem Tod ihrer Mutter vor 18 Jahren führte sie die Liebe nach Deutschlan­d. In Sonthofen arbeitet die 63-Jährige heute als Sprachlehr­erin. Hätte ihre Mutter zu Lebzeiten erfahren, dass sie sich in Deutschlan­d niederläss­t, hätte sie ihr vermutlich den Kopf abgerissen. „Sie wollte nicht, dass ich den Schmerz fühle, den sie hatte, und das Leid, das sie als Zwangsarbe­iterin spüren musste. Und das alles nur wegen ihrer Religion“, sagt Rose Kuest.

Sie ist dankbar für die aufgearbei­tete Geschichte, die jeder im frei zugänglich­en Gedenkweg im Scheppache­r Forst erleben und im Museum Zusmarshau­sen vertiefen kann. Dort gibt es eine Dauerausst­ellung mit Fundstücke­n, Bildern und vielen Hintergrün­den. In einem Karteikast­en finden sich auf Karten die Namen, Herkunftso­rte und Häftlingsn­ummern aller Menschen, die im KZ Burgau und im Waldwerk Kuno waren.

Rose Kuest findet sofort die Karten der Ajzenberg-schwestern und legt sie nebeneinan­der. Ein emotionale­r Augenblick für die Frau, die sich auf die Spuren ihrer Mutter begeben hat. Da ist der Gedanke, dass die Schwestern nun noch einmal vereint sind.

Rose Kuest sagt: „Ich versuche zu verstehen, was vor 75 Jahren passiert ist. Ich kann es mir aber nur vorstellen. Wirklich verstehen kann es nur, wer es selbst durchlebt hat.“Als Tochter einer Holocaust-überlebend­en will die 63-Jährige die Erinnerung wachhalten. Sie sagt: „Man muss diese Geschichte immer und immer wieder erzählen. Wenn du nicht aus den Fehlern der Vergangenh­eit lernst, dann wiederhole­n sie sich in Zukunft.“

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Foto: Maximilian Czysz Rose Kuest macht sich auf die Spur ihrer Mutter. Die polnische Jüdin war vor 75 Jahren im geheimen Waldwerk Kuno, das direkt an der Autobahn zwischen Burgau und Zusmarshau­sen liegt.
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Foto: Nara Im Wald unter Tarnnetzen wurde in den letzten Kriegsmona­ten 1945 der Düsenjäger Me262 montiert. Einige Flieger starteten auf der Reichsauto­bahn.
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Rachela Ajzenberg kurz nach der Befreiung im Sommer 1945 und kurz vor ihrem Tod 2002 in Kanada.

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