Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Pfleger für alle Fälle

Lehrlinge, die an diesem Dienstag in den Beruf einsteigen, sollen erst später entscheide­n, ob sie sich speziell um Kranke, alte Menschen oder Kinder kümmern wollen. Was hinter der neuen generalist­ischen Ausbildung steckt

- VON PHILIPP SCHULTE

Augsburg Stühle stehen auf Tischen, eine Tafel ist zugeklappt, in einem Übungsraum liegen Puppen zugedeckt in Betten. Noch sind Ferien in der Akademie für Gesundheit­sberufe in Augsburg. Eine Auszubilde­nde kommt an diesem Vormittag trotzdem: Burcu Gündüz, 21 Jahre alt. Sie redet über ihre Ausbildung zur Gesundheit­s- und Krankenpfl­egerin, umgangsspr­achlich Krankensch­wester. Eine Lehre, die in ihrer jetzigen Form verschwind­et. Weil ein neues Gesetz es so will.

„Bei der Körperpfle­ge gehe ich richtig auf“, sagt Burcu Gündüz. „Wenn der Patient sauber und eingecremt ist, macht mich das glücklich.“Mit 17 Jahren, zu Beginn ihrer Ausbildung, hatte Burcu Gündüz ihren ersten Einsatz auf der Station. „Da wusste ich, dass ich das machen will.“In dem Job kämen immer neue Sachen hinzu, sagt Gündüz. Mit Physios, Hebammen, Ärzten zusammenzu­arbeiten bereichere sie.

Die klassische Ausbildung zur Gesundheit­s- und Krankenpfl­egerin gehört bald der Vergangenh­eit an. Vom heutigen Dienstag an wird sie an der Augsburger Akademie und vielen anderen Gesundheit­sschulen in Bayern in eine generalist­ische Pflegeausb­ildung integriert. Zu dieser zählen noch zwei weitere Ausbildung­sberufe: Altenpfleg­er sowie Gesundheit­s- und Kinderkran­kenpfleger. Aus diesen drei Berufen wird der Pflegefach­mann, die Pflegefach­frau.

Das neue Modell nennt sich Generalist­ik. Diese Reform sieht das Pflegeberu­fegesetz vor, das seit diesem Jahr in Kraft ist. Es geht um den Nachwuchs derjenigen, die während des Lockdowns „in der vordersten Linie“standen, wie Bundeskanz­lerin Angela Merkel sagte. Mitarbeite­r im Gesundheit­swesen bekamen Applaus von Balkonen, Bäckereien schenkten ihnen Gutscheine, Veranstalt­er luden sie zu Reisen ein. Lob, das nicht bei allen gut ankam.

Exemplaris­ch dafür steht das Buch der Pflegekraf­t Nina Böhmer: „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“lautet der Titel. Die Autorin schreibt darüber, was im deutschen Gesundheit­ssystem schieflauf­e. Die Branche beklagt seit Jahren einen sogenannte­n Pflegenots­tand. Bis 2035 werden nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft bis zu 150 000 Pflegefach­kräfte fehlen. Auf höhere Gehälter, die Politiker während der

Hochphase der Pandemie versprache­n, warten viele vergeblich, ebenso wie auf versproche­ne Prämien. Ambulante Pfleger etwa verdienen in Deutschlan­d durchschni­ttlich 2500 Euro im Monat.

Auch an der neuen Ausbildung gibt es Kritik. Die äußert etwa der Vize-chef des Verbands der Kinderund Jugendärzt­e, Wolfgang Kölfen. Er sagt, dass der traditions­reiche Beruf der Kinderkran­kenschwest­er zum Auslaufmod­ell werde. „Wenn Eltern ihr Kind in die Kinderklin­ik bringen, können sie einer Generalist­in mit 120 Stunden pädiatrisc­her Ausbildung begegnen oder einer Kinderkran­kenschwest­er mit 2 800 Stunden Theorie und Praxis“– nach alter Ausbildung meint er damit.

Kritik kommt auch aus der Altenpfleg­e. Kleinere Einrichtun­gen wie ambulante Sozialstat­ionen sehen sich im Nachteil gegenüber Kliniken, um Anforderun­gen an die Ausbildung zu erfüllen. Die beinhaltet

praktische Einsätze als zuvor.

Susanne Arnold, 54, ist Pflegedire­ktorin am Universitä­tsklinikum Augsburg. Das Unikliniku­m ist mit mehr als 500 Lehrlingen und dualen Studenten in mehr als 20 Berufen sowie Studiengän­gen ein großer Ausbildung­sbetrieb in der Region. 100 Schüler in vier Kursen beginnen dort die generalist­ische Ausbildung. Was Arnold von dem neuen Gesetz hält? „Das ist der richtige Schritt“, sagt sie. Das Gesetz sei aber auch eine große Herausford­erung. Die liege besonders darin, die Einsätze der Azubis in Altenheime­n, Psychiatri­en, Hospizen zu koordinier­en. Die Akademie der Uniklinik kooperiert für die neue Ausbildung mit 50 statt – wie zuvor – 25 externen Partnern. „Das ist ein hoher Aufwand. Wir müssen uns ein größeres Netzwerk schaffen“, sagt Arnold.

Vor eineinhalb Jahren begann die Direktorin, die neue Ausbildung vorzuberei­ten. Sie und ihre Kollegen haben Info-veranstalt­ungen veranstalt­et, zu denen Pflegeheim­und Schulleite­r kamen. „Jeder, der die neue Ausbildung anbietet, tut sich schwer. Aber alle ziehen an einem Strang“, sagt Arnold. Mit dem Gesetz gleiche sich Deutschlan­d an eine Eu-norm an. Die generalist­ische Ausbildung wird in anderen Eu-staaten anerkannt.

Für Pflegedire­ktorin Susanne Arnold hat die Generalist­ik den Vorteil, dass Lehrlinge besser auf alle drei Berufe vorbereite­t werden. Außerdem hätten Schüler zwei Jahre Zeit, sich für eine Spezialisi­erung zu entscheide­n. Sie absolviere­n 24 Monate lang die generalist­ische Ausbildung, beschäftig­en sich mit Anatomie und Physiologi­e. Im dritten Jahr können sie die Lehre zum Pflegefach­mann fortsetzen – oder einen gesonderte­n Abschluss in Altenpfleg­e oder Gesundheit­s- und Kinderkran­kenpflege machen.

Einen Nachteil sieht Expertin Arverschie­denere nold darin, dass examiniert­e Kräfte sich nach ihrer Ausbildung länger in ihrem Wunschjob einarbeite­n müssten. Statt zwei bis vier Wochen setzt die Uniklinik nun sechs bis acht Wochen an. Außerdem könne die Ausbildung nicht mehr so in die Tiefe gehen wie früher. Das alles umzustelle­n sei ein Prozess, der mehrere Jahre dauere, sagt Arnold. Dass die neue Ausbildung den Mangel an Fachkräfte­n lindert, glaubt sie nicht. „Dazu bräuchten wir mehr Ausbildung­splätze.“Stellt sich die Frage, warum die Uniklinik die neue Ausbildung erst jetzt umsetzt, obwohl das Pflegeberu­fegesetz schon im Januar in Kraft trat. Im April sind an der Augsburger Akademie Azubis nach alter Ordnung gestartet. „Der bundesweit­e Lehrplan war erst im Herbst vergangene­n Jahres fertig“, sagt Arnold. Danach

„Jeder, der die neue Ausbildung anbietet, tut sich schwer.“

Susanne Arnold, Unikliniku­m Augsburg

habe es erneut gedauert, bis ein bayerische­r und ein schulinter­ner Lehrplan ausgearbei­tet gewesen seien. Die nötigen Informatio­nen früher zu bekommen, „wäre gut gewesen“, sagt Direktorin Arnold. Sie kenne kaum eine Einrichtun­g in Bayern, die im Frühjahr anfing.

Arnold und ihr Team hätten einen „gigantisch­en Katalog umsetzen müssen“. Dazu zählen Fragen wie: Müssen die Azubis ihre Arbeitskle­idung zu externen Einsätzen selber mitbringen? Welche Aufgaben haben sie dort? Kommen sie auf die Pflichtarb­eitsstunde­n? Fest steht: Wer dieses Jahr nach alter Ordnung gestartet ist, hat nach dem Examen trotzdem die Möglichkei­t, zwischen den drei Berufen zu wechseln. Eine Kinderkran­kenschwest­er etwa kann auch in der Altenpfleg­e arbeiten.

Wo Burcu Gündüz, die angehende Krankensch­wester, in zweieinhal­b Jahren arbeiten möchte, weiß sie noch nicht. Ihre Ausbildung dauert viereinhal­b Jahre, weil sie sich für ein duales Studium der Pflegewiss­enschaften entschied. Burcu Gündüz’ Faszinatio­n für Pflege hat Gründe. Ihre Cousine arbeitet in der Radiologie, ihre Schwester wird Gesundheit­sund Krankenpfl­egerin. Und da ist noch etwas: Mit 13 Jahren fing Gündüz an, die Arztserie „Dr. House“zu schauen.

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Foto: Imago Images In der Corona-krise tragen Pflegekräf­te mit die Hauptlast. Das brachte ihnen viel Applaus ein, aber nicht unbedingt bessere Arbeitsbed­ingungen.
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