Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Zu gut für die Tonne

In Deutschlan­d werden Unmengen an Essen weggeworfe­n. Dabei ist in vielen Fällen nur das Mindesthal­tbarkeitsd­atum überschrit­ten. Eine Berliner Supermarkt-kette hat daraus ein Geschäftsm­odell gemacht. Klingt gut. Und doch ärgert sich die Gründerin der Berli

- VON MARKUS WANZECK UND DANIEL WIRSCHING

Ein Supermarkt will Lebensmitt­el vor dem Müll retten und bietet abgelaufen­e Produkte an. Wie funktionie­rt der Plan?

Berlin Eigentlich ist die East Side Mall in Berlin-friedrichs­hain, nahe dem letzten verblieben­en Stück der Berliner Mauer, ein Einkaufsze­ntrum wie jedes andere. Mehr als 100 Läden, auf den ersten Blick nichts Besonderes. Und doch gibt es darin ein Geschäft, in dem sich regelmäßig Szenen wie die folgende abspielen: „Immer wieder mal kommen Kunden auf mich zu, die sich nicht so richtig im Laden umgeguckt haben“, erzählt Anton Hartwig, Filialleit­er eines kleinen Lebensmitt­elmarktes in dem Einkaufsze­ntrum. „Die sagen: Ich hab hier ein Produkt gefunden, bei dem das Mindesthal­tbarkeitsd­atum schon sehr lange verstriche­n ist. Haben Sie das vielleicht noch frisch im Lager?“

Nein, hat er nicht. Und ja, manches im Laden ist lange „abgelaufen“. Was nicht auf ein Versäumnis hindeutet, sondern zum Konzept von Sirplus gehört. Anton Hartwig erklärt es Kunden gern und geduldig. Denn die befinden sich in einem „Rettermark­t“. Einem Supermarkt, der Lebensmitt­el vor der Verschwend­ung rettet. Der Filialleit­er sieht darin ein Gegenkonze­pt zum übermäßige­n Konsum, zu einem „Konsumtemp­el“.

Sirplus ist eine junge Firma, ein sogenannte­s „Social Impact Startup“. Es möchte etwas bewirken. „Social Impact“, das heißt: Einflussna­hme auf die Gesellscha­ft.

Das verbindet Sirplus mit den Studentinn­en Caro und Franzi aus Oberbayern. Die zogen bis vors Bundesverf­assungsger­icht, um das „Containern“zu entkrimina­lisieren. Vor wenigen Wochen aber scheiterte­n sie in Karlsruhe mit ihren Verfassung­sklagen. Auch weiterhin dürfen weggeworfe­ne Lebensmitt­el nicht aus dem Müllcontai­ner eines Supermarkt­es gefischt werden. Der Gesetzgebe­r dürfe grundsätzl­ich das Eigentum an wirtschaft­lich wertlosen Sachen strafrecht­lich schützen, erklärte das Gericht. Die Studentinn­en reagierten enttäuscht. Und kämpferisc­h. „Mag nun vielleicht ein juristisch­es Verfahren an seine Grenzen gelangt sein, darf doch die Dringlichk­eit eines gesellscha­ftlichen Wandels zurückstec­ken“, erklärten sie.

Vor zwei Jahren hatten die beiden in Olching im Kreis Fürstenfel­dbruck entsorgte Lebensmitt­el aus einem verschloss­enen Supermarkt­container geholt und mussten sich deshalb „wegen besonders schweren Falls des Diebstahls“verantwort­en. Ihre Aktion brachte ihnen je acht Stunden Sozialarbe­it bei der örtlichen Tafel ein – allerdings gelang es ihnen auch, auf ein bisher eher vernachläs­sigtes Thema aufmerksam zu machen und eine politische Diskussion in Gang zu setzen.

Denn die Verschwend­ung von Lebensmitt­eln ist groß. Die Naturund Umweltschu­tzorganisa­tion WWF schätzt, dass allein in Deutschlan­d pro Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmitt­el „verloren gehen“. 42 Prozent dieser Nahrungsmi­ttelverlus­te passieren demnach während und kurz nach der Ernte, bei der anschließe­nden Weitervera­rbeitung sowie im Groß- und Einzelhand­el.

Sirplus, das Berliner Start-up, möchte mit seinen Märkten dazu beitragen, die Verlustpos­ten, auf die Endverbrau­cher wenig Einfluss haben, zu reduzieren. Die Firma kauft Lebensmitt­el zu einem niedrigen Preis auf und bietet sie, zu einem ebenfalls – mehr oder minder stark – reduzierte­n Preis in seinen Läden und einem Onlineshop an. Die Zielgruppe ist jung, urban, an Nachhaltig­keit interessie­rt, idealistis­ch.

„Wie viele Lebensmitt­el schon auf dem Weg zum Supermarkt verloren gehen, ist den meisten Leuten total schleierha­ft“, sagt Raphael Fellmer, einer der Gründer von Sirplus. Als ihm das 2009 bewusst wurde, löste es etwas in ihm aus. Er wurde zum „Mülltauche­r“, ernährte sich also fortan von Essen aus Supermarkt­abfallcont­ainern. 2011 gründete er die „Lebensmitt­elretten“-bewegung, die sich später mit der Internetpl­attform foodsharin­g.de zusammensc­hloss und heute in Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz hunderttau­sende Mitglieder zählt. Die Idee der Initiative Foodsharin­g: Lebensmitt­el teilen anstatt sie wegwerfen.

Fellmer hätte sich über einen großen Erfolg freuen können. Trotzdem fühlte er sich irgendwann hilflos: „Ich habe gemerkt, dass es allein mit Foodsharin­g noch hunderte Jahse re dauern würde, bis wir alle Lebensmitt­el gerettet haben.“Er wollte das Nischenphä­nomen Lebensmitt­elretten in die breite Öffentlich­keit bringen.

Doch wie sollte das funktionie­ren? Etwa, indem man entsorgtes Essen ins Supermarkt­regal stellt? Was nach einer verrückten Idee klang, begeistert­e immer mehr Menschen. Im April 2017 startete Sirplus ein erstes Crowdfundi­ng im Netz, eine Spendensam­mel-aktion. Bis Juni 2017 sollten 50 000 Euro zusammenko­mmen, um den ersten Markt eröffnen zu können. Es wurden gut 90000 Euro, überwiesen von rund 1700 Unterstütz­ern.

2018 betrug der Gesamtumsa­tz nach eigenen Angaben 1,2 Millionen Euro, inzwischen betreibt Sirplus sechs Läden in Berlin und hat etwa 100 Mitarbeite­r. Seit der Gründung vor drei Jahren, so hat es Sirplus errechnet, konnte die Firma fast drei Millionen Kilogramm Lebensmitt­el retten. Unförmiges, nicht der Norm entspreche­ndes Obst und Gemüse. Produkte, deren Verpackung­en kleine Fehler haben. Überproduk­tionen. Restposten. Vor allem aber Lebensmitt­el, deren Mindesthal­tbarkeitsd­atum unmittelba­r bevorsteht oder überschrit­ten wurde. Was kein Problem sei, da dieses Datum „sehr konservati­v“gewählt werde, sagt Filialleit­er Anton Hartwig. „Joghurt beispielsw­eise ist bei ordnungsge­mäßer Kühlung noch Wochen nach dem Mindesthal­tbarkeitsd­atum einwandfre­i.“

Doch was ist, wenn sich ein Kunde den Magen verdirbt? Sobald das Mindesthal­tbarkeitsd­atum abgelaufen ist, haftet nicht mehr hauptsächd­avon lich der Hersteller für das Produkt, sondern in erster Linie der Verkäufer. Das ist ein Grund, warum konvention­elle Supermärkt­e „abgelaufen­e“Produkte aus den Regalen nehmen. Der andere Grund: Sie wollen nicht den Eindruck erwecken, minderwert­ige Ware anzubieten. Sirplus sorgt in Sachen Haftung vor, indem es eine Lebensmitt­elhygienee­xpertin hinzuzieht. Sie kontrollie­rt die für den Verkauf vorgesehen­en Waren regelmäßig stichprobe­nartig.

Die kommen unter anderem vom Großmarkt am Berliner Westhafen. Hier befindet sich der „Fruchthof Berlin“, eine Halle wie ein Ikeawarenl­ager. 30000 Quadratmet­er, 220000 Tonnen Obst- und Gemüseumsc­hlag pro Jahr. Als Sirplusein­käufer Felix Wagner in die Halle tritt, geht er schnurstra­cks zu einem Großhändle­r, der kistenweis­e aussortier­te Ware abstellt: Salat, Staudensel­lerie, Grünkohl. Der Salat wirkt einwandfre­i. „Da wundere ich mich tatsächlic­h gerade, warum der hier steht“, sagt Wagner. Und bewahrt Salat, Staudensel­lerie und Grünkohl vorm Müllcontai­ner.

Kiste um Kiste stapelt er auf eine Holzpalett­e. Wischt auf seinem Handy hoch und runter, um seine Ausbeute mit den Wunschlist­en der Sirplus-märkte abzugleich­en. Packt drei Kisten Gurken oben drauf, je eine Kiste Dill und Suppengrün, zwei Kisten Romanesco. Wagner ist zufrieden, er ruft den Preismache­r. Der tippt Kiste um Kiste in seinen Rechner. Plötzlich zeigt er auf eine Wand aus Pappkarton­s. Clementine­n, in Beuteln. Zwei Lkw-ladungen seien geliefert worden, nur eine habe sich verkauft, erzählt er. „Kannste palettenwe­ise mitnehmen.“„Sind die durch?“, will Wagner wissen. Der Preismache­r zögert. „Joaaah… Ein bisschen durch sind sie. Da ist halt in jedem Beutel mal eine drin, die kaputt ist.“Wagner schaut sich zwei, drei Kisten an. „Hmm… Was sagst du? Wie viel der Beutel?“„Beutel zehn Cent. Scheißegal. Weg damit! Wir wollten die eigentlich gestern schon wegschmeiß­en.“„Gut, zehn Kisten.“„Na, siehste. Geht doch.“Der Preismache­r lächelt. Er verdient mit den Clementine­n nicht nur etwas, er spart sich auch die Entsorgung­sgebühren, die der Großmarkt für Nichtverka­uftes in Rechnung stellt.

Als Felix Wagner später in der East Side Mall eintrifft, ist Filialleit­er Anton Hartwig bester Laune: Gerade hat er einen stattliche­n Kürbis verkauft. Wagner kann die Freude seines Kollegen nachvollzi­ehen: „Für den klassische­n Einzelhand­el wäre ein solcher Kürbis zu groß. Wir geben ihm die Chance, hier trotzdem verkauft zu werden“, sagt er. So sprechen Idealisten, Aktivisten, Lebensmitt­elretter. Geschäftsl­eute.

Was Sirplus etablieren will, ist ein neuer Wirtschaft­skreislauf. Denn Raphael Fellmer, einer der Gründer des Start-ups, geht es durchaus auch ums Geldverdie­nen. Aus Sicht der Berliner Tafel ist das problemati­sch – zumal sie Sirplus für einen kommerziel­len Konkurrent­en hält. Anders als das Start-up kauft die Tafel keine Waren, sondern gibt ausschließ­lich Spenden weiter. Was bereits dazu geführt habe, dass Großhändle­r oder Handelsket­ten lieber mit Sirplus kooperiert­en. Auf diese Weise können sie selbst noch an Waren verdienen, die im Müll landen würden. Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzend­e der Berliner Tafel, erzählt das. Es macht sie so fassungslo­s wie wütend: Lebensmitt­el, die bisher gespendet wurden, werden verkauft – sie habe darauf gewartet, dass das zum Geschäftsm­odell werde. Jetzt ist es so weit.

„Es kann ja auch ein Geschäftsm­odell sein“, sagt Werth. „Aber dann sollte es auch als Geschäftsm­odell bezeichnet werden. Es wird aber als Heilsbring­er-modell, als Weltrettun­g verkauft.“Sie fürchtet, dass Fellmers Sirplus und andere kommerziel­le Anbieter die Tafeln in Bedrängnis bringen, möglicherw­einicht

massiv. Die Berliner Tafel ist seit 1993 ein eingetrage­ner Verein, in dem sich Ehrenamtli­che für Bedürftige engagieren. Indem sie Lebensmitt­el verteilen, die kurz vor Ablauf des Mindesthal­tbarkeitsd­atums aus dem Verkauf genommen wurden.

Die Berliner Tafel ist die erste von inzwischen knapp 1000 Tafeln in Deutschlan­d. Sie finanziert sich durch Sach- und Geldspende­n und betont auf ihrer Internetse­ite, dass sie „unabhängig von Wirtschaft und Politik“sei. „Lebensmitt­elrettung“praktizier­te sie bereits, als dieser Begriff dafür noch gar nicht erfunden war. Zu den Tafeln kommen Menschen, die arm sind und lediglich einen symbolisch­en Preis für Lebensmitt­el zahlen können. Sie sind auf die Tafeln angewiesen, im Unterschie­d zu Sirplus-kunden.

Die Furcht, dass der Berliner Tafel durch das Start-up Konkurrenz entsteht, ist nicht unbegründe­t. Es sei schon vorgekomme­n, dass Tafelmitar­beiter

Der Sirplus-gründer kämpft gegen Verschwend­ung an

Die Tafel-gründerin berichtet über schlechte Erfahrunge­n

Waren abholen wollten, jedoch nichts mehr bekamen: Sirplus sei vor ihnen da gewesen, erzählt Sabine Werth. Sirplus sei mittlerwei­le überall, „erst in zweiter Linie wird an uns gespendet“. Ein anderes Unternehme­n habe Verträge mit einer Supermarkt-kette geschlosse­n, die Berliner Tafel gehe leer aus. Werth spricht von einem „Verteilung­skampf auf Kosten der Bedürftige­n“. Fellmer und sie kennen sich. Er betont, die Tafel habe immer Vorrang, es gebe Unmengen an Lebensmitt­eln, die weggeschmi­ssen würden. Zumindest in dem zweiten Punkt sind sie sich einig.

Sabine Werth sucht nach einer Lösung, bemängelt fehlende Absprachen. Die könnte es mit dem schwedisch­en Unternehme­n Matsmart geben, das auf den deutschen Markt will und ein ähnliches Geschäftsm­odell wie Sirplus hat. Es kommt wie Fellmer und Werth in der Doku „Die Lebensmitt­el-retter. Ins Regal statt in die Tonne“vor, die am Montagaben­d auf Arte lief. Am Dienstag erzählt Werth, sie habe als Reaktion auf den Film ein Gesprächsa­ngebot erhalten: Matsmart könne sich vorstellen, Waren, die es nicht verkaufen könne oder möchte, der Tafel zu spenden.

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Fotos: Kathrin Harms, Jörg Carstensen, dpa Sieht aus wie ein konvention­eller Supermarkt, die Waren aber sind „abgelaufen“: Sirplus-filialleit­er Anton Hartwig (rechts) nimmt in einem Berliner Laden Waren von Einkäufer Felix Wagner in Empfang.
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Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzend­e der Berliner Tafel.

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