Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der tote Junge am Strand

Wie das Schicksal von Aylan Kurdi vor fünf Jahren die Welt veränderte

- VON GERD HÖHLER

Istanbul Die sanften Wellen, der weiche Sand, der kleine, leblose Körper. So hat die türkische Fotoreport­erin Nilüfer Demir den dreijährig­en Aylan Kurdi in den Morgenstun­den des 2. September 2015 gegen sechs Uhr fotografie­rt. „Ich wollte den verstummte­n Schrei des Jungen hörbar machen“, sagte sie später. Das Foto wurde zum Symbol des Leids von hunderttau­senden Flüchtling­en. Auch Aylans Mutter Rehanna und sein älterer Bruder ertrinken. Aber es war vor allem das Schicksal des kleinen Buben im roten T-shirt, das die Welt bewegte. Kaum ein Bild spiegelt die menschlich­e Dramatik dieser Krise so eindringli­ch wider.

Die Kurdis waren eine von hunderttau­senden syrischen Familien, die sich auf der Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat im Sommer 2015 auf die gefährlich­e Reise von der Türkei nach Griechenla­nd machten. Drei Jahre zuvor war die Familie aus Damaskus zunächst nach Aleppo und, als der Bürgerkrie­g sie dort einholte, weiter nach Kobane geflohen. Der Vater, Abdullah Kurdi, siedelte in die Türkei über und fand einen Job in einer Textilfabr­ik. Als im September 2014 die Terrorbrig­aden des sogenannte­n Islamische­n Staats in Richtung Kobane vorrückten, wollte er seine Familie in die Türkei nachholen. Am frühen Morgen des 2. September bestieg Abdullah Kurdi mit seiner Frau und den beiden kleinen Söhnen an der türkischen Ägäisküste ein Schlauchbo­ot. Sie wollten zur gegenüberl­iegenden griechisch­en Insel Kos und von dort weiter nach Kanada. Eine Schwester von Abdullah Kurdi lebte seit 15 Jahren in Vancouver. Sie überwies der Familie das Geld für die Flucht in die Türkei.

Drei Versuche, die Ägäis zu überqueren, hatte die Familie bereits unternomme­n. Sie waren gescheiter­t. 2050 Euro pro Person habe er den Schleusern für die dritte Überfahrt bezahlt, sagte Abdullah Kurdi später. Die Reise beginnt in der Nacht. Zwölf Menschen quetschen sich in das kleine Schlauchbo­ot, das eigentlich nur acht Passagiere aufnehmen kann. Sechs Kilometer sind es hinüber nach Kos. Aber schon fünf Minuten nach der Abfahrt dringt Wasser in das Boot ein. Panik bricht aus. Das Boot kentert. Von der Familie Kurdi kann nur der Vater schwimmen. Er erreicht das rettende Ufer. Seine Frau und seine beiden Söhne ertrinken.

Das Bild des toten Aylan am Strand bewirkte im September 2015 ein Umdenken in der Flüchtling­spolitik. Mehr europäisch­e Länder erklärten ihre Bereitscha­ft, Geflüchtet­e aufzunehme­n. Mit dem Tod des Buben begann auch die Debatte über eine Zusammenar­beit der Europäisch­en Union mit der Türkei in der Migrations­politik. Der türkische Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu nahm die Tragödie zum Anlass für einen Gastbeitra­g in einer deutschen Zeitung, in dem er die EU auffordert­e: „Es ist an der Zeit, gemeinsam zu handeln.“

Am 18. März 2016 einigten sich die Türkei und die EU auf den sogenannte­n Flüchtling­spakt. Er sieht vor, dass die Türkei die irreguläre Migration zu den griechisch­en Inseln unterbinde­t. Im Gegenzug sagten die Europäer Milliarden­hilfen für Flüchtling­sprojekte in der Türkei und die geregelte Aufnahme einer begrenzten Anzahl von syrischen Kriegsflüc­htlingen zu. Zusammen mit der Schließung der Balkanrout­e sechs Wochen zuvor hat der Flüchtling­spakt dazu beigetrage­n, den Flüchtling­sstrom zu bremsen.

Die Zahl der Schutzsuch­enden geht seitdem zurück. Kamen im Sommer 2015 an manchen Tagen noch fast 10 000 Menschen über die Ägäis, waren es im ganzen Monat Juli dieses Jahres nur 315. Trotz des Rückgangs bleibt die Lage jener, die es auf eine der griechisch­en Inseln schaffen, prekär. Dort hausen fast 28000 Geflüchtet­e in Lagern, die nur für 8700 Personen ausgelegt sind. Seit Jahren fordert Griechenla­nd eine gerechte Verteilung der ankommende­n Migranten und der Asylverfah­ren auf alle Eu-staaten, aber die lässt weiter auf sich warten.

Im März wurden drei Anführer der Schleuserb­ande, die die Kurdis damals aufs Meer schickten, in der Türkei wegen Mordes zu je 125 Jahren Haft verurteilt. Aylans Vater ist in die Stadt Kobane zurückgeke­hrt. Er hat wieder geheiratet und ist noch einmal Vater geworden. Das Baby hat er nach seinem verstorben­en Sohn Aylan genannt.

Die Familie wollte zu Verwandten nach Kanada

 ?? Archivfoto: AP, dpa ?? Der Morgen des 2. September 2015: Ein türkischer Polizist trägt den Leichnam des dreijährig­en Aylan Kurdi vom Strand weg.
Archivfoto: AP, dpa Der Morgen des 2. September 2015: Ein türkischer Polizist trägt den Leichnam des dreijährig­en Aylan Kurdi vom Strand weg.

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