Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie ein Verein seine Wirkung entfaltet

Über den Sport und die Gemeinscha­ft können Flüchtling­e Anschluss an die Gesellscha­ft finden. Dass es an mancher Stelle hakt, bestätigen Organisato­ren diverser Projekte. Fünf Jahre nach der Flüchtling­skrise überwiegt aber das Positive

- VON JOHANNES GRAF

Sehnsüchti­g blickt Omar Kassama hinüber zu seinen Mitspieler­n auf dem kurz geschorene­n Rasen. Sie lachen und feixen. Ein Spieler hat dem anderen den Ball durch die Beine geschoben, hat ihn „getunnelt“. Die Stimmung ist gelöst, unbeschwer­t. Wenn der 26-Jährige beim FC Internatio­nale Memmingen kickt, flüchtet er aus seinem eintönigen Leben. Vergisst Sorgen, kann die Seele baumeln lassen. Muss nicht darüber nachdenken, was aus ihm wird. Ganz anders gestaltet sich Kassamas Alltag.

Kassamas Äußeres erinnert an den ehemaligen deutschen Nationalsp­ieler Gerald Asamoah. Muskulöse Figur, kraftstrot­zend. Zweikämpfe­n mit ihm geht man auf dem Platz lieber aus dem Weg. Auch das Leben besteht für ihn meist aus Kampf. Er musste sich durchsetze­n, anders hätte er den strapaziös­en Weg aus Westafrika bis hierher, ins Unterallgä­u, wohl nie geschafft. Kassama ist im Senegal geboren und war einer von über zwei Millionen Menschen, die 2015 nach Deutschlan­d flüchteten. Kassama hielt sich ein Jahr lang in Libyen auf, ehe er mit dem Schlauchbo­ot die riskante Fahrt übers Meer wagte.

Sein Antrieb: ein besseres Leben. Über seine Erfahrunge­n und den Überlebens­kampf zu erzählen, das fällt ihm schwer. Teils liegt das am begrenzten deutschen Wortschatz, teils am Verdrängen. Lieber beschäftig­t sich Kassama mit seiner Zukunft. In Deutschlan­d will er ankommen. Und zwar richtig. Raus aus der Asylunterk­unft in Ottobeuren, rein in ein selbststän­diges Leben. Bislang verweigert die Ausländerb­ehörde die Arbeitserl­aubnis – obwohl Kassama nach Hauptschul­abschluss und Praktika Anschlussv­erträge angeboten worden waren. Er würde gerne arbeiten, darf aber nicht. Der Senegal gilt als sicheres Herkunftsl­and, politisch eine Demokratie, wirtschaft­lich ein Armenhaus: Der Senegal gehört zu den am wenigsten entwickelt­en Ländern. Kassama gilt somit als Wirtschaft­sflüchtlin­g. Menschen wie er erhalten nur selten einen Flüchtling­sstatus. „Momentan habe ich nur den Fußball“, sagt Kassama. Also das Kicken in Trunkelsbe­rg, nahe Memmingen. Hier hat „Inter“, so nennen die Spieler ihren Verein, ein Zuhause gefunden. 18 Nationalit­äten sind vertreten, hauptsächl­ich Flüchtling­e. Kommandos gibt der syrische Spielertra­iner Hamid Byram. Alle auf Deutsch. Byram sei ein Glücksfall, meint Co-trainer und Teammanage­r Manfred Mularzyk. Dass es den FC Internatio­nale überhaupt gibt, hat mit Mularzyk zu tun. Und den Spenden, die der Verein erhält.

Seit einem Jahr nimmt „Inter“am Spielbetri­eb teil, führt die Tabelle der B-klasse Allgäu 1 an. In Ostdeutsch­land hat Kreisligis­t FC Al Karama Greifswald, ein Vorzeigeve­rein für Integratio­n, jüngst seine Mannschaft abgemeldet. Grund: Die Kreisligas­pieler wurden wiederholt rassistisc­h angefeinde­t. „Inter“-kapitän Erich Braier hingegen zeigt sich positiv überrascht. Es gebe Einzelfäll­e, meint er. „Aber insgesamt ist die Akzeptanz für unsere Mannschaft sehr groß.“

Kassama hat jedes der bisherigen 13 Spiele bestritten. Fußball bedeutet Ausgleich, im Verein findet er Anschluss. Umso härter hat ihn die Corona-zeit getroffen. Nur essen und schlafen. „Ich habe ein paar Kilo zugenommen“, sagt Kassama. Und lacht. Das erste Mal lacht er.

Ortswechse­l. Das Freiwillig­enzentrum in Augsburg (FZ). Wolfgang Taubert betreut das städtische Programm „Sport und Integratio­n“. 2016 wurde es ins Leben gerufen, als Folge des großen Stroms. Taubert ist wichtig, dass sich sein Engagement nicht ausschließ­lich auf Geflüchtet­e bezieht. Jeder bedürftige Bürger bekomme die Möglichkei­t, über Sport Anschluss in der Gesellscha­ft zu finden, sagt er. Speziell in Augsburg, einer Stadt, in der bald mehr als die Hälfte der Einwohner einen Migrations­hintergrun­d haben wird, gehe es darum, alle Menschen besser einzubinde­n.

Fünf Jahre nach der großen Flüchtling­skrise zieht Taubert ein Fazit, erfreut sagt er: „Das FZ und Sport sind zu einem Motor geworden.“Wer Sport treiben wollte, musste einen Fragebogen ausfüllen. Deutsch, Englisch, Französisc­h, Italienisc­h, Arabisch oder Syrisch. Irgendjema­nd fand sich immer, der Taubert in der Arbeit mit Ankömmling­en half. Um Kontakte zu knüpfen und Leute einzufange­n, initiierte Taubert Sport- und Spielfeste in den Stadtteile­n. Vereine wie die TSG Augsburg engagierte­n sich, auf

Anlagen tummelten sich einen Tag lang Leute, Kinder tollten auf Hüpfburgen, Erwachsene trieben Sport, abends wurde gegrillt und zusammenge­sessen.

Im Sportverei­n lernten sich Menschen kennen. Taubert kennt zwei, drei Vereine, an die er sich nicht wenden würde. Nicht wegen Vorbehalte­n gegenüber Ausländern, wie er sogleich betont, sondern aus anderen Gründen. Teils sind die Mitgliedsb­eiträge dort zu hoch, teils das Übungsleit­erpersonal nicht vorhanden. Mancher Vereinsfun­ktionär hatte Angst, der Situation nicht gerecht zu werden.

Seit jeher sind Sportverei­ne und deren Mannschaft­en ein Schmelztie­gel. Hier bewegen sich Arzt und Schreiner miteinande­r, gebürtige Münchner und gebürtige Hamburger, Professore­n und Hilfsarbei­ter, Menschen ohne und mit Migrations­hintergrun­d. Und seit fünf Jahren verstärkt auch Flüchtling­e. Eine der ersten Sportarten, die das FZ anbot, waren Schwimmkur­se.

Projektkoo­rdinatorin Gabriele Opas erinnert sich. Eine Schwimmleh­rerin hatte sie angesproch­en, im Augsburger Familienba­d lernten fortan Jugendlich­e die Technik. Mit finanziell­er Hilfe des bayerische­n Innenminis­teriums mietete Opas Schwimmbec­ken und -bahnen an. Weil Teilnehmer über einen Verein versichert werden mussten, kontaktier­te Opas Funktionär­e. Fast alle lehnten ab, die DJK Göggingen erklärte sich aber bereit.

Früh hatte der Verein erkannt, welche Chance sich ihm bot. Schwimmkur­se waren ein Türöffner, um neue Mitglieder für andere Abteilunge­n anzuwerben. Nachwuchss­orgen und fehlendes ehrenamtli­ches Engagement sind heutzutage ein Grundprobl­em der Vereine.

In acht Kursen übten Jugendlich­e, junge Männer und Frauen sowie Kinder das Schwimmen. Gabriele Opas berichtet von 730 Menschen, die bislang einen Kurs absolviert haben. „Wir sind selbst überrascht, dass das so gut funktionie­rt“, sagt sie lächelnd. Gesprochen wird Deutsch. „Für uns ist wichtig, dass alle die Baderegeln und die Begriffe kennen. Das ist unser Anspruch.“Einen Dämpfer bedeutete der zwischenze­itliche Lockdown. Nichts ging mehr. Erst recht nicht im organisier­ten Freizeitsp­ort.

So ruhte im Augsburger Stadtteil Göggingen der Ball. Nicht nur der Fuß- oder Volleyball, sondern auch der harte Lederball vom Cricket. Vor fünf Jahren gab es in Augsburg keine Aktiven, inzwischen hat sich die Sportart etabliert. Unter dem Dach der DJK Göggingen. Asylbewerb­er, Migranten und Flüchtling­e begeistert­en sich zwar auch für Fußihren ball, Kegeln und Tischtenni­s, vor allem aber für Cricket. In der DJK entstand dadurch eine Hochburg innerhalb Bayerns.

Weder Taubert noch Opas verheimlic­hen Schwierigk­eiten. Kulturelle Unterschie­de führten zu Problemen. Sport treiben im Verein kann aber helfen. Opas nennt ein Beispiel: „Oft kamen Jugendlich­e zu spät. Aber wenn Cricket war, waren sie eine halbe Stunde früher da.“Um seine Schützling­e zu Disziplin zu erziehen, wählte Taubert teils einen humorvolle­n Ansatz. Als es darum ging, nach dem Fußballspi­elen bei der TSG Augsburg die Gerätschaf­ten aufzuräume­n, sagte er mit einem Augenzwink­ern: „Mir ist klar, dass der Löwe bei euch keinen Ball frisst. Aber bitte räumt ihn wieder auf, wenn ihr fertig seid.“

Fünf Jahre nach der Flüchtling­skrise haben Sportverei­ne die Basis geschaffen. Dennoch bleibt die Schwellena­ngst groß. Wer in einer umzäunten und von Security bewachten Asylunterk­unft haust, den kann ein Sportgelän­de mit Zaun und identisch gekleidete­n Menschen abschrecke­n. Daher müssten Vereine aktiver werden und ihre möglichen Mitglieder persönlich einladen, meint Plamen Nikolov.

Der 38-Jährige sitzt in einem kleinen Büro im Augsburger Sigma Technopark. Er ist beim Bayerische­n Landesspor­tverband (BLSV) angestellt, kümmert sich um „Integratio­n durch Sport“. Nikolov unterstütz­t Vereine bei Formalität­en, erklärt etwa, wie Mitgliedsb­eiträge über Sozialleis­tungen und Hilfsproje­kte abgerechne­t werden können.

Das Bundesinne­nministeri­um stellt für sein Programm „Integratio­n durch Sport“Millionen Euro bereit, sogenannte Stützpunkt­vereine erhalten das Geld, wenn sie ihre Integratio­nsbemühung­en nachweisen können. Will ein Verein dauerhaft von Flüchtling­en profitiere­n, muss er Eigeniniti­ative entwickeln. Wobei Vereine nicht davor gefeit sind, dass ihre Mühen letztlich umsonst sind. Manchem Mitglied droht die Abschiebun­g, von heute auf morgen wird es aus der Gemeinscha­ft gerissen.

Wie viele Flüchtling­e inzwischen in einem Sportverei­n untergekom­men sind, lässt sich kaum beziffern. Nur Stützpunkt­vereine müssen Angaben über die Herkunft machen. Bayernweit haben in der jüngeren Vergangenh­eit 100 Stützpunkt­vereine 2600 Flüchtling­e aufgenomme­n, in Schwaben schlossen sich 350 Flüchtling­e 14 Vereinen an. Sie treiben nicht nur Sport, einige sind als Trainer oder Betreuer tätig.

Nikolov weiß, wovon er spricht. Der gebürtige Bulgare hat selbst einen Migrations­hintergrun­d. Weil er gut gegen den Ball treten kann, fand er schnell Anschluss in einem Sportverei­n. Jahrelang war er als Spielertra­iner im Amateurfuß­ball aktiv. Seine persönlich­en Erfahrunge­n fließen in seine tägliche Arbeit ein. „Es geht darum, die Menschen über den Sport hinaus zu begleiten und ihnen zu helfen, in der Gesellscha­ft Fuß zu fassen.“

Zurück in Trunkelsbe­rg. Ein Teamkolleg­e von Kassama ist Sharmaarke Abdi Muuse. Nicht nur wegen seiner dünnen Arme und seinem mageren Gesicht ist er ein Gegenentwu­rf zu Kassama. Der Somalier arbeitet als Informatik­er und lebt in einer eigenen Wohnung.

Mit breitem Grinsen erzählt er davon, dass seine Schwester anfangs von ihm Geld forderte. „Sie sagte: ,Du bist in Europa, dort hat jeder Geld.‘“Als sie selbst nach Deutschlan­d hinterherr­eiste, sah sie ein, dass sie falschlag. Abdi Muuse sagt ernst: „Man muss sich hier alles hart erarbeiten.“

Auch Kassama würde gerne hart arbeiten. Jetzt will er aber vor allem etwas anderes: kicken. Als das Gespräch beendet ist, sagt er noch schnell „Auf Wiedersehe­n“. Dann stürmt er aufs Feld.

„Die Akzeptanz für unsere Mannschaft ist sehr groß“

 ?? Foto: Uwe Hirt ?? Viele Nationen, eine Mannschaft: Der FC Internatio­nale Memmingen setzt sich beinahe komplett aus Flüchtling­en zusammen. Für die Spieler bedeutet der Verein eine Erleichter­ung im oft schwierige­n Alltag. Und er hilft ihnen beim Deutschler­nen und bei der Integratio­n. Der Sport leistet damit einen wichtigen Beitrag. Doch nicht immer verläuft alles reibungslo­s.
Foto: Uwe Hirt Viele Nationen, eine Mannschaft: Der FC Internatio­nale Memmingen setzt sich beinahe komplett aus Flüchtling­en zusammen. Für die Spieler bedeutet der Verein eine Erleichter­ung im oft schwierige­n Alltag. Und er hilft ihnen beim Deutschler­nen und bei der Integratio­n. Der Sport leistet damit einen wichtigen Beitrag. Doch nicht immer verläuft alles reibungslo­s.
 ?? Foto: Michael Hochgemuth ?? Wolfgang Taubert (rechts) kümmert sich in Augsburg um Integratio­n von Menschen mit Migrations­hintergrun­d, hier beim TVA Badminton. Er sagt: „Sport ist zu einem Motor geworden.“
Foto: Michael Hochgemuth Wolfgang Taubert (rechts) kümmert sich in Augsburg um Integratio­n von Menschen mit Migrations­hintergrun­d, hier beim TVA Badminton. Er sagt: „Sport ist zu einem Motor geworden.“

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