Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Warum gibt es so viele Sommerbabys?
Forscher rätseln über ein Phänomen, das sich erst seit wenigen Jahrzehnten in Deutschland beobachten lässt
Berlin Kinder, die in diesen Wochen auf die Welt kommen, liegen im Trend: Denn die meisten Babys werden in Deutschland im Juli, August und September geboren. Aber warum ist das eigentlich so? Und warum lässt sich das erst seit etwa vier Jahrzehnten beobachten?
Forscher stehen vor einem Rätsel. Was sie etwa sagen können: 2019 wurden im geburtenstärksten Monat Juli durchschnittlich rund 20 Prozent mehr Kinder pro Tag geboren als im geburtenarmen Dezember. Im Juli 2019 waren es also durchschnittlich 2344 Geburten pro Tag, im Dezember 1935. Noch bis in die 1970er Jahre hinein sah die Verteilung ganz anders aus: Damals waren Februar, März und April die geburtenstärksten Monate.
Bei der Suche nach Antworten kann Sebastian Klüsener vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung helfen. Manche Experten erklärten, sagt er, dass die Gesellschaft früher stärker von der Landwirtschaft geprägt gewesen sei: War im Sommer abzusehen, dass die Ernte gut ausfällt, konnte man sich ein weiteres Kind leisten – das eben dann im Frühjahr zur Welt kam. Und da Sex vor der Ehe stärker tabuisiert war, wurden mehr Kinder nach der Hochzeit gezeugt. Geheiratet wurde häufig im Sommer.
Der Wechsel vom Frühjahrszum Sommerhoch bei den Geburten begann in Deutschland in einer Zeit, in der Traditionen hinterfragt und Sexualität enttabuisiert wurde. In den 60ern kam die Pille auf den Markt, auch der Zugang zu anderen Verhütungsmethoden wurde erleichtert, erklärt Joshua Wilde vom Max-planck-institut für demografische Forschung. Der Anteil ungewollter Schwangerschaften nahm ab, Geburten wurden planbarer.
Allerdings: Studien zufolge würden sich die meisten Eltern eine
Geburt im Frühjahr oder Frühsommer wünschen, sagt Wilde. Mehr Planung müsste also zu noch mehr Geburten in Februar, März und April führen.
Solche Widersprüche tauchen immer wieder auf, wenn man Theorien zu den Geburtenzahlen näher betrachtet. „Es gibt all diese Erklärungen“, sagt Wilde, keine aber scheine wirklich gut mit den Daten in Einklang zu bringen zu sein. Andere Hypothesen sehen ihm zufolge Faktoren
wie Spermaqualität oder Umwelteinflüsse wie Tageslänge und Sonnenstrahlung im Vordergrund.
Der Demografieforscher hält es für überzeugend, dass der Klimawandel hinter dem Phänomen stecken könnte. Wenn es in den Tagen um die Zeugung besonders heiß sei, gebe es mehr Fehlgeburten. In einer immer wärmeren Welt mit mehr Hitzewellen gebe es daher tendenziell weniger erfolgreiche Schwangerschaften im Sommer und damit weniger Geburten im Frühjahr. Der Wechsel vom Frühjahr zum Sommer bei den Geburtenzahlen ist dabei kein rein deutsches Phänomen. Und: Während in der alten Bundesrepublik bereits Anfang der 80er der Wechsel vom Frühling zum Sommer vollzogen war, überwogen die Sommergeburten im Osten Deutschlands erst seit den 90ern. Klimaunterschiede gab es hier nicht.