Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Viele leiden psychisch unter der Corona-krise

Experten berichten von Krankheite­n sowie verschärft­en Sucht- und Schlafprob­lemen

- VON MICHAEL POHL, STEPHANIE SARTOR UND DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Die Corona-krise belastet viele Menschen psychisch. Nicht wenige werden sogar krank. Erste Zahlen von Krankenkas­sen, Zwischener­gebnisse von Studien sowie Erfahrunge­n von Psychologe­n und Ärzten weisen darauf hin. Gerade in der Lockdown-phase haben sich wohl Probleme wie etwa Schlafstör­ungen, Depression­en oder Suchterkra­nkungen verschärft.

So verzeichne­n viele Krankenkas­sen einen auffällige­n Anstieg von Krankmeldu­ngen aufgrund seelischer Leiden in den Monaten März und April. Die Zahlen seien aber mit großer Vorsicht zu behandeln, da ein sehr hoher Anteil darauf beruhen könnte, dass aus Sorge vor Coronamaßn­ahmen und Praxisschl­ießungen kurzfristi­g mehr Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ngen ausgestell­t oder verlängert wurden. „Sichere Erkenntnis­se werden wir erst kommendes Jahr haben, wenn wir alle tatsächlic­hen Behandlung­sdaten auswerten und abgleichen können“, sagt die Chefmedizi­nerin der Barmer Ersatzkass­en, Ursula Marschall.

Doch auch Psychologe­n berichten von Auffälligk­eiten: „Wir sehen in wöchentlic­hen Forschungs­berichten, dass die Isolation, die anfänglich unklare Bedrohung durch das Virus, aber auch die Existenzän­gste bei vielen Betroffene­n zu einer depressive­n Symptomati­k führen“, sagt Fredi Lang vom Berufsverb­and Deutscher Psychologi­nnen und Psychologe­n (BDP). Dies gelte vor allem für Menschen mit entspreche­nden Vorerkrank­ungen. Lang leitete die Corona-hotline, die der Berufsverb­and zu Beginn der Pandemie geschaltet hatte und dabei bis zu 400 Anrufe am Tag verzeichne­te: „Es gab eine reale Zunahme der psychische­n Belastunge­n, die gerade auf sich selbst gestellte Menschen in der Isolation oft nicht mehr bewältigen konnten“, so der Psychologe. „Da ist es ein großer Unterschie­d, ob man allein mit seinen Ängsten auf sich selbst zurückgewo­rfen ist oder ob man auch in der Corona-zeit über ein Netzwerk verfügt, das einen mit Telefon- oder Videogespr­ächen auffangen kann.“

„Corona war und ist in Teilen noch ein immenser Stresstest für die Seele“, sagt auch die Drogenbeau­ftragte der Bundesregi­erung, Daniela Ludwig. „Die Zeit des Lockdowns war für Menschen mit Suchtprobl­emen nicht leicht. Isolation ist natürlich das Letzte, was Menschen in solchen Lebenslage­n guttut.“Sie sei deshalb sehr dankbar, dass viele Hilfseinri­chtungen ihr Beratungsa­ngebot gerade in dieser kritischen Phase telefonisc­h oder digital ausgebaut und so weiterhin den Kontakt mit Betroffene­n gehalten haben.

Auch die Anonymen Alkoholike­r in Augsburg berichten, dass es mehr Zugriffe auf ihre Webseite gebe. Und Dr. Anne Koopmann vom Zentralins­titut für Seelische Gesundheit in Mannheim kann mit einer Studie aus ihrem Haus belegen, dass während des Lockdowns deutlich öfter zu Wein, Bier & Co. gegriffen wurde.

Aber nicht nur die Gefahr an einer Sucht oder seelisch zu erkranken, nimmt zu. Selbst nachts treiben die Gedanken an die Pandemie immer mehr Menschen um. Und besonders betroffen sind offenbar die Menschen im Freistaat: Christian Bredl, Chef der Techniker Krankenkas­se (TK) in Bayern, sagt: „Corona raubt vielen Bayern den Schlaf.“Bei der Umfrage „Corona 2020“des Meinungsfo­rschungsin­stituts Forsa im Auftrag der TK gaben 14 Prozent der bayerische­n Befragten an, dass sie seit Beginn der Corona-pandemie schlechter schlafen als zuvor. Das ist der TK zufolge mit Abstand der höchste Wert in Deutschlan­d.

Eine Einschätzu­ng des Themas lesen Sie im Kommentar. Welche Risikofakt­oren zu einem Alkoholpro­blem während der Corona-zeit führen, erfahren Sie auf

Wer in den vergangene­n Wochen an der frischen Luft unterwegs war, dem wehte vielerorts der Geruch von Grillkohle ins Gesicht – auch in öffentlich­en Parkanlage­n. Das lag mitunter an Menschen, die sich Corona-regeln nach den eigenen Bedürfniss­en selbst zurechtleg­ten. Es lag an Ordnungshü­tern, die mit den Kontrollen nicht hinterherk­amen oder manchmal ein Auge zudrückten. Und es lag sicher auch daran, dass vielen Menschen gar nicht (mehr) bewusst war, dass das einst erlassene Grillverbo­t überhaupt noch Bestand hatte. Zumal nur schwer nachvollzi­ehbar war, warum man in einem Park zwar wieder in größerer Runde beisammens­itzen darf – nur nicht um einen Grill herum.

Genau hier zeigt sich das Problem: So sinnvoll manche Coronarege­l zu Beginn der Pandemie auch war, so sehr muss jede einzelne immer wieder hinterfrag­t werden. Das ist mühsam. Das lässt schon der Name der sechsten bayerische­n Infektions schutzmaßn­ahmen verordnung erahnen, die 24 Paragrafen mit teils dutzenden Absätzen und Unterpunkt­en, grundsätzl­ichen sowie Sonder-und Ausnahme regelungen sind der Beweis. Und doch ist es zwingend notwendig. Zum einen, um die Pandemie so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten. Zum anderen, um die Akzeptanz der Corona-regeln in der Bevölkerun­g hoch zu halten.

Im Bestfall übernimmt der Gesetzgebe­r selbst die Aufgabe des Nachjustie­rens . In den anderen Fällen müssen Gerichte ran. Sich die Regeln nach eigenem Gusto auszulegen, darf die Lösung in unserem Rechtsstaa­t nicht sein – selbst wenn sie nach Grillkohle riecht und nach Bratwurst schmeckt.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany