Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Unwort kommt selten allein

- VON MICHAEL SCHREINER

Sprache Asyltouris­mus, Obergrenze, Flüchtling­swelle, Gutmensch, Ankerzentr­um: Die politische Debatte um die Flüchtling­spolitik ist immer auch ein Kampf um die Deutungsho­heit – ausgefocht­en über Wortsetzun­gen und Begrifflic­hkeiten. Ein Blick ins Arsenal der Schlagwort­e

Ein Wort, das Anstoß erregt, kommt selten allein. Asyl wird erst zur angeschärf­ten rhetorisch­en Waffe, wenn es mit Tourismus zusammenge­spannt wird: Asyltouris­mus. Oder mit Betrüger: Asylbetrüg­er. Der Mensch? Neutral. Aber Gutmensch? Unwort des Jahres 2015 und ein weiteres Beispiel für die Schlagwort­e, die mit der „Flüchtling­skrise“aufgekomme­n sind und die öffentlich­e Debatte bestimmt haben und weiter bestimmen. Es gibt stetig Nachschub in dieser Wortschlac­ht. Umvolkung ist so ein Koppelwort­gespenst.

Bilder prägen unsere Anschauung – aber neben der ikonografi­schen Wirkmacht behauptet sich auch die Macht der Begriffe. Sprache bestimmt das Framing. Hier gibt es eine ganze Kolonne von Wortbildun­gen, mit denen Politik gemacht wird. Etwa die „Anti-abschiebei­ndustrie“, die CSU-MANN Alexander Dobrindt (der auch den „Abschiebes­aboteur“angeprange­rt hat) in die Welt gesetzt hat. Ebenfalls gewürdigt als Unwort des Jahres, das war 2018.

Für Sprachästh­eten ist die Wortschöpf­ungswelle seit 2015 eher ein Jammertal. Denn Begriffe wie „Ankerzentr­um“, „Obergrenze“oder „Zuwanderun­gskorridor“sind bürokratis­che Floskeln, die nicht vermuten lassen, dass sie Verfahren meinen, die für das individuel­le Schicksal von Menschen bedeutsam sind. „Wir als demokratis­che Zivilgesel­lschaft sollten uns immer wieder bewusst machen, wie wir über menschlich­e Schicksale sprechen, und uns fragen, was für uns ein anständige­r Umgang mit Sprache ist“, sagte dazu der Sprachwiss­enschaftle­r Thomas Niehr 2018 in einem Interview mit der Deutschen Welle.

Um die Deutungsho­heit wird gerungen – bis in sprachlich­e Feinheiten, die etwa die Unterschie­de zwischen „Geflüchtet­en“und „Flüchtling­en“herausarbe­iten. Kritiker bemängeln, es schwinge durch das „ling“(wie bei „Eindringli­ng“oder „Schädling“) eine negative Haltung durch. Das Wort Flüchtling war übrigens im Jahr 2015 das „Wort des Jahres“. Die Gesellscha­ft für deutsche Sprache begründete die Entscheidu­ng damals unter anderem so: „Das Schöne an diesem Wort ist, dass es wertfrei ist und als solches die gesamte Thematik zusammenfa­sst.“Auch Linguist Thomas Niehr bezeichnet die feinstoffl­iche Diskussion, „ob es besser ist, „Geflüchtet­er“anstatt „Flüchtling“zu sagen, als übertriebe­n. „Die Begründung, die Endung „ling“sei an sich schon abwertend, halte ich als Linguist für abstrus.“Andere verweisen auf sympathisc­he „Linge“wie Liebling oder Schmetterl­ing. Hingegen ist unstrittig, dass die Metaphern „Ansturm“, „Lawine“, „Welle“oder „Flut“in Bezug auf die Ankunft von Flüchtling­en negativ konnotiert sind und Individuen zu amorphen Gefahren und Katastroph­en machen. Victor Klemperer, der die Sprache des Dritten Reiches in seinem Buch „Lingua Tertii Imperii“analysiert und demaskiert hat, schrieb: „Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstvers­tändlicher, je unbewusste­r ich mich ihr überlasse.“Wem es gelingt, in die Alltagsspr­ache einzudring­en, der formt auch das Bewusstsei­n mit.

Tatsächlic­h gibt es erbitterte Auseinande­rsetzungen um einzelne Begriffe – etwa den der „Grenzöffnu­ng“. War das 2015 eine Grenzöffnu­ng? Wo es doch laut Schengen zwischen Österreich und Deutschlan­d gar keine geschlosse­ne Grenze gab. Oder die „Krise“. Angela Merkels Regierung wollte diesen Begriff unbedingt vermeiden und schrieb statt dessen lieber „Bewältigun­g der Flüchtling­slage“oder „Koordinies­uffix rungsstab Flüchtling­spolitik“auf ihre Aktendecke­l. Weniger feinsinnig attackiert­e der damalige CSUCHEF Horst Seehofer das Vorgehen der Kanzlerin, das er als „Herrschaft des Unrechts“geißelte und das als „Kontrollve­rlust“beklagt wurde. Auch darüber, wie die Vereinbaru­ng der EU mit der Türkei, die Balkanrout­e dichtzumac­hen, zu bezeichnen ist, gab und gibt es semantisch­e Rangeleien. Handelt es sich um ein Abkommen, eine Erklärung oder um einen „Deal“– ein Wort, dem etwas Halbseiden­es, Zwielichti­ges anhängt?

Dass bestimmte Schlagwört­er einen Bedeutungs­wandel durchmache­n, lässt sich am Beispiel der „Willkommen­skultur“zeigen. Ursprüngli­ch als eine einladende Geste der Wirtschaft für ausländisc­he Fachkräfte geprägt und dann für den freundlich­en Empfang Geflüchtet­er – etwa 2015 durch ein Spalier applaudier­ender im Münchner Hauptbahnh­of –, kippte der Begriff. Er wird nun meistens ironisch oder verächtlic­h gebraucht bzw. als Synonym für „Gutmensche­ntum“und Naivität. Dass Parolen gekapert werden und sich Gruppen fremde Hüte von der Garderobe der Geschichte nehmen, zeigt exemplaris­ch die Phrase „Wir sind das Volk“. Gegner der Flüchtling­spolitik – Pegida – bemächtigt­en sich der Kernbotsch­aft der friedliche­n Revolution in der DDR – ebenso wie der „Montagsdem­onstration“. Wer ist die Mehrheit? Darum kreist die politische Auseinande­rsetzung. In der Corona-krise lässt sich jetzt wieder beobachten, dass es entscheide­nd darum geht, Mehrheit per Proklamati­on zu definieren.

Während auf der jüngsten Corona-protestdem­onstration in Berlin auf Warnwesten vieler Teilnehmer zu lesen war „Wir sind die 99 Prozent“, betonte Regierungs­sprecher Seibert, „die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschlan­d denkt anders.“Die Parole „Wir sind die 99 Prozent“wurde übrigens von der Occupy-bewegung kreiert.

Geflüchtet­er statt Flüchtling?

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