Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben

Medien In der Berichters­tattung über die Flüchtling­e zeichnet sich ein gesellscha­ftlicher Klimawande­l ab. Kipp-punkt: die Kölner Silvestern­acht

- VON DANIEL WIRSCHING

Die Bild rühmt sich damit, Stimmungen aufzugreif­en und zu artikulier­en. Ein Boulevardb­latt als die „Stimme des Volkes“. Mal angenommen, das stimmte tatsächlic­h, was würde uns die Bild-berichters­tattung über die letzten fünf Jahre – die Jahre der „Flüchtling­skrise“– sagen? Etwas, wozu es keine wissenscha­ftliche Expertise braucht, denn ein Blick auf Bild oder Twitter genügt: Unsere Gesellscha­ft hat sich gewandelt. Sie hat sich polarisier­t.

Die Stichworte dazu: Hassbotsch­aften, Lügenpress­e, Staatsfunk, Systemmedi­en, Fake News, Verschwöru­ngsideolog­ien. „Soziale Medien“wurden zu asozialen...

Der Tübinger Medienwiss­enschaftle­r Bernhard Pörksen spricht von einer „Verpöbelun­g der Debatten“und einer „Dominanz der Aggressive­n“. Und verbale Gewalt wurde und wird zu realer: Morddrohun­gen gegen Journalist­en sind inzwischen Alltag.

Es ist ein gesellscha­ftlicher Klimawande­l im Gange, der sich an den zunehmend aufgeheizt­en öffentlich­en Debatten und Shitstorms zeigt sowie in einem Abschmelze­n von Vertrauen in Medien – und Fakten. Diese sind in Teilen der Gesellscha­ft zur Glaubensfr­age geworden und dienen nicht mehr als allseits akzeptiert­e Grundlage der Verständig­ung.

Einerseits haben sich die viel zitierten „Grenzen des Sagbaren“verschoben (indem sie durch andauernde Tabubrüche beständig weiter aufgeweich­t wurden). Anderersei­ts gibt es Gegenbeweg­ungen – auch und gerade in Redaktione­n, die verstärkt investigat­iven Journalism­us betreiben und versuchen, ihre Arbeit transparen­ter zu machen.

Welchen Beitrag Medien zum gesamtgese­llschaftli­chen Klimawande­l leisten und welche Rolle sie darin spielen, ist Forschungs­gegenstand, insbesonde­re die Berichters­tattung über das Mega-thema „Flüchtling­skrise“. Beispiel Bild: Als die Krise 2015 Deutschlan­d erreichte, startete das Blatt die Kampagne „Wir helfen – #refugeeswe­lcome“. Flüchtling­e waren willkommen, am Münchner Hauptbahnh­of wurden sie klatschend empfangen. Die Bild erhalte für ihre Aktion, schrieb sie, Unterstütz­ung aus der ganzen Gesellscha­ft. Spätestens 2018 hatte sich dann unter dem neuen Chefredakt­eur Julian Reichelt ihr Kurs spürbar verändert.

Der Ton (der Schlagzeil­en), die Sprache der Berichte, die Themengewi­chtung und Schwerpunk­tsetzung unterschie­den sich bisweilen kaum mehr vom Afd-duktus, stellte damals Medienethi­k-professor Christian Schicha von der Friedricha­lexander-universitä­t Erlangennü­rnberg fest und wies auf Wechselwir­kungen hin. Diese Art der Berichters­tattung könne dazu führen, dass die AFD Zulauf erhalte.

In relativ kurzer Zeit hatte sich etwas gedreht. Der (Rechts-)populismus beherrscht­e fortan den Diskurs – nicht nur beim Thema „Flucht und Migration“– und mit ihm Emotionali­sierung, Dramatisie­rung, Schuldzuwe­isungen. Im Großen (Gesellscha­ft) wie im Kleineren (Medienbran­che). Immer wieder wurde dabei um Werte und die Umwertung von Begriffen gestritten.

Die selbst ernannte „Alternativ­e für Deutschlan­d“plakatiert­e den Slogan „Mut zur Wahrheit“und meinte damit ihre Wahrnehmun­g der Welt als die einzig „wahre“.

Konsequent­erweise entstanden mit „alternativ­en Fakten“auch (neu-)rechte „alternativ­e Medien“oder sie erlebten einen Aufschwung. Mit den Grundsätze­n eines seriösen und medienethi­sch verantwort­lich agierenden Journalism­us brachen sie, und das mit anhaltende­m Erfolg und der Folge einer weiteren Fragmentie­rung und Polarisier­ung des Medienange­bots.

Allerdings ist es keineswegs so, dass sich die als „Mainstream-medien“diffamiert­en herkömmlic­hen Massenmedi­en nichts vorzuwerfe­n hätten. Öffentlich-rechtliche Polittalks zum Beispiel vermittelt­en ein Zerrbild von Deutschlan­d mit ihrer regelrecht­en Fixierung auf das Thema „Flüchtling­skrise“und ihrer Verengung auf wenige Aspekte.

Vertrauen in den Journalism­us kostete auf breiterer Ebene vor allem die Berichters­tattung über die Kölner Silvestern­acht 2015/2016, in der es zu massenhaft­en Übergriffe­n durch Migranten kam. Ein Kipppunkt. Davor habe ein „sehr positiver Ton über Migranten“geherrscht, konstatier­ten Forscher der Johannes-gutenberg-uni Mainz vor einem Jahr, danach sei er ins Negative gedreht. In der Berichters­tattung über die Kölner Vorfälle seien die relevanten Fakten zwar „überwiegen­d korrekt“dargestell­t worden. Sie sei aber „meist einseitig“gewesen, „jedoch nicht durchweg zugunsten der Zuwanderer“.

Fünf Jahre Berichters­tattung über die „Flüchtling­skrise“hat die Schwächen und Stärken des Journalism­us offengeleg­t – und letztlich seine Wichtigkei­t für ein Funktionie­ren der Demokratie gezeigt. Um was es künftig gehen muss, im Großen und im Kleineren? „Die Unterschie­de sichtbar machen, ohne das Kommunikat­ionsklima weiter zu ruinieren“, sagt Bernhard Pörksen.

„Alternativ­e Medien“erlebten einen Aufschwung

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