Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Alkoholkonsum steigt in der Krise
Gesundheit Suchtexperten warnen: Corona erhöht die Gefahr, abhängig zu werden. In einer Studie geben ein Drittel der Befragten an, mehr zu trinken. Welche Risikofaktoren es gibt
Augsburg Alkohol fließt vielerorts, der Spätsommer wird gefeiert. Die vielen Freiluftpartys auf der einen und die steigende Zahl der Infizierten auf der anderen Seite haben bayerische Städte bereits dazu bewogen, Einschränkungen beim Alkoholgenuss auszusprechen. Der Alkoholkonsum bereitet aber nicht nur Oberbürgermeistern und Anwohnern von beliebten Treffpunkten Sorge: Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim hat zusammen mit dem Klinikum Nürnberg herausgefunden, dass er während der Corona-krise deutlich zugenommen hat.
Auch die Anonymen Alkoholiker (AA) in Augsburg, die mit über 30 Gruppen in der Region Bayerischschwaben vertreten sind, registrieren mehr neue Gesichter bei ihren Treffen. „Es kommen mehr Menschen, die merken, dass sie Hilfe brauchen“, sagt eine Regionssprecherin. „Das geht quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten.“Ob die Neuen allerdings bleiben, ist abzuwarten. Für viele sei es ein weiter Weg, bis sie sich eingestehen, dass sie Hilfe brauchen. Auch die Homepage der AA werde seit Beginn von Corona öfter aufgerufen.
Alkohol sei hinterhältig und fies: Viele würden zunächst beim Trinken auch positive Effekte spüren, würden beispielsweise selbstbewusster, schlagfertiger, mutiger, auch belastbarer werden, erzählt die Sprecherin, die sich selbst aus ihrer über Jahre dauernden Abhängigkeit befreien musste. Wer benötige gerade in Zeiten wie diesen, in denen eine Pandemie alles auf den Kopf stellt, den Stress und oft die Angst um den eigenen Arbeitsplatz steigen lässt, nicht die Illusion solcher Eigenschaften? Die negativen Folgen der Alkoholsucht aber, vor allem der Kontrollverlust, zeigen sich oft erst später, weiß die Sprecherin aus unzähligen Leidensgeschichten und betont: „Es ist eine dreifache Krankheit, eine geistige, eine körperliche und eine seelische.“Und nicht nur die Trinkenden selbst brauchen Hilfe, die Angehörigen leiden meistens mit. Daher gibt es neben den Anonymen Alkoholikern auch eine eigene Gemeinschaft für Angehörige, die Al-anon-gruppen.
Dass mehr getrunken wird, kann auch Dr. Anne Koopmann vom ZI in Mannheim bestätigen. In einer Studie gab demnach jeder dritte Befragte an, während des Lockdowns mehr oder sogar viel mehr getrunken zu haben. Besorgniserregend ist dieses Ergebnis nach Einschätzung der Oberärztin, weil andere Studien während Pandemiephasen belegen, dass auch lange Zeit nach der Krise Menschen ein erhöhtes Suchtverhalten zeigen. Etwa 3500 Menschen im Alter zwischen 18 und 80 Jahren wurden online für die Zi-studie befragt. 64 Prozent davon Frauen, 36 Prozent Männer.
Nun warnt die Weltgesundheitsorganisation vor Mythen rund um den Alkohol und stellt klar: Alkohol schützt nicht vor Covid-19. Alkohol zerstört auch nicht das Coronavirus und Alkohol stimuliert nicht das Immunsystem und die Resistenz gegen das Virus. Vielmehr habe der Genuss von zu viel Bier, Wein & Co. schädliche Auswirkungen auf das Immunsystem. Doch offenbar führen auch nicht diese Mythen zu einem erhöhten Alkoholgenuss, sondern die Veränderung der Lebensverhältnisse, erklärt Anne Koopmann. Vor allem, wer die Coronakrise als Stress empfindet, wer Ängste entwickelt, neige dazu, häufiger zum Alkohol zu greifen. „Aber auch veränderte Arbeitsbedingungen sind Risikofaktoren“, sagt die Ärztin. Neben der Kurzarbeit nennt sie das Homeoffice: „Im Homeoffice gibt es keine soziale Kontrolle mehr. Es fällt beispielsweise niemanden mehr auf, wie ich beieinander bin. Ich muss nicht nüchtern bleiben, weil ich nicht Autofahren muss.“Auch empfinden viele Berufstätige nach Einschätzung von Koopmann das Homeoffice als soziale Isolation, entwickeln Ängste und Sorgen, was wiederum das Risiko eines erhöhten Alkoholkonsums wachsen lasse.
Doch ab wann ist der Alkoholkonsum eigentlich kritisch? Suchtexpertin Koopmann macht dies weniger an Trinkmenge und der Anzahl an Trinktagen fest. Sie rät den Menschen, sich vielmehr folgende Fragen zu stellen: Gab es erfolglose Versuche, den Konsum zu reduzieren? Habe ich aggressiv reagiert, wenn andere mich auf meinen Alkoholkonsum angesprochen haben? Fühle ich mich schuldig, weil ich zu viel trinke? Denke ich am Morgen nach dem Aufstehen schon daran, erst einmal einen Schluck zu trinken? Wer auch nur eine Frage mit Ja beantwortet, sollte das vertrauensvolle Gespräch mit seinem Hausarzt oder mit einem Experten aus einer Beratungsstelle suchen. Denn Koopmann betont: „Viele machen sich nicht bewusst, dass jeder Schluck Alkohol das Risiko erhöht, schwer zu erkranken. Alkohol ist ein Zellgift.“Auch unterschätzten viele die körperlichen und vor allem auch die schweren psychischen Folgeerkrankungen. „Daher ist uns die Prävention so wichtig“, sagt Koopmann. „Alkohol ist allgegenwärtig und rund um die Uhr ohne Probleme zu haben. Die Gesellschaft muss sich schon fragen, wie sie mit dieser gefährlichen Droge umgeht.“
ⓘ Hilfe Informationen zu den Anonymen Alkoholikern gibt es im Internet unter www.anonyme-alkoholiker.de; die deutschlandweite Kontakt-telefonnummer lautet 08731/3257312.