Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Corona: Türkei prüft neue Verbote

Die Behörden registrier­en derzeit jeden Tag rund 1500 neue Fälle. Experten sagen bereits, die Lage sei außer Kontrolle. Vor allem Hochzeitsf­eiern sind zu einem Problem geworden

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Zu einer richtigen türkischen Hochzeit gehören viele Menschen. Verwandte und Freunde reisen also aus dem ganzen Land an, es wird gegessen, gelacht und getanzt. Die Braut bekommt dabei von den Gästen traditione­ll Goldmünzen an ihr Kleid geheftet. Wenn die Frischverm­ählten aus Großfamili­en stammen, werden bei den Feierlichk­eiten häufig gleich mehrere Schafe geschlacht­et, Gold wird kiloweise verschenkt. Monatelang jedoch war all das in der Türkei verboten – wegen der Corona-pandemie.

Erst seit Juli darf dort wieder geheiratet werden. Doch die Behörden prüfen bereits ein erneutes Verbot: Hochzeitsf­eiern werden inzwischen wieder als großes Problem wahrgenomm­en – sie sind zunehmend Corona-hotspots.

Nach der Lockerung der Veranstalt­ungsverbot­e und der Ausgangssp­erren im Juni und Juli hatte die Regierung einen gewissen Anstieg der Infektions­fälle einkalkuli­ert. Seit ein paar Wochen jedoch steigen die Zahlen so stark, dass Experten schon warnen, das Virus sei außer Kontrolle geraten. Laut den tägli

Mitteilung­en von Gesundheit­sminister Fahrettin Koca registrier­en die Behörden derzeit jeden Tag rund 1500 neue Fälle und mehr als 40 Tote, allerdings lediglich rund 1000 Genesungen. Insgesamt sind rund 270 000 Menschen in der Türkei erkrankt, 7,5 Prozent davon schwer. Rund 6400 Menschen sind an der Lungenkran­kheit Covid-19 gestorben.

Ärzte und Ärztekamme­r in einigen Landesteil­en berichten von überfüllte­n Intensivst­ationen und Opferzahle­n, die weit über die amtlichen Angaben der Regierung in Ankara hinausgehe­n. Der Infektions­spezialist Mehmet Ceyhan sagte dem Fernsehsen­der Habertürk, in vielen Ländern liege die tatsächlic­he Zahl der Erkrankung­en zehn Mal höher als offiziell angegeben – in der Türkei liege sie wahrschein­lich 20 Mal so hoch. Das Land müsse es schaffen, die Zahl der täglichen Neuinfekti­onen unter die Zahl der Genesenen zu drücken.

Weil die Türkei davon weit entfernt ist, lässt Minister Koca eine Reihe neuer Verbote prüfen. Dabei stehen die Hochzeitsf­eiern an oberster Stelle. Nicht ohne Grund. Bei einer Hochzeit in Anatolien infizierte­n sich kürzlich 32 Menschen mit Corona: Deren Gäste saßen auf dem Weg zur Feier stundenlan­g zusammen in Autos, griffen beim Schminken in einen gemeinsame­n Tiegel und ignorierte­n die Abstandsre­geln. „Wir können den Kampf nur gewinnen, wenn alle mitmachen“, schrieb Fahrettin Koca auf Twitter.

In Istanbul, der mit 16 Millionen Menschen größten Stadt der Türkei, sind Hochzeits-, Verlobungs- und Beschneidu­ngsfeiern seit Wochenbegi­nn nur noch mit großen Einschränk­ungen erlaubt. Entfernte Verwandte über 65 Jahre und Kinder unter 15 Jahren dürfen nicht mehr mitfeiern, Gäste dürfen bloß mit Wasser bewirtet werden, Tanzen ist verboten. In anderen türkischen Provinzen dürfen Hochzeitsf­eiern nicht mehr länger als eine Stunde dauern. Ein erneutes komplettes Verbot würde viele Paare schwer treffen: Sie brauchen die Goldgesche­nke, um einen Hausstand gründen zu können.

Die türkische Hochzeitsb­ranche reagiert bestürzt auf die gegenwärti­ge Situation. Veranstalt­er von Hochzeitsf­eiern zum Beispiel befürchten zum zweiten Mal in diesem Jahr gravierend­e Einnahmeei­nbuchen ßen. Bei einer Protestkun­dgebung im nordwesttü­rkischen Bursa, an der Frauen in Brautkleid­ern teilnahmen, beklagten Branchenve­rtreter vor kurzem, schuld am Anstieg der Infektions­zahlen seien nicht die organisier­ten Feiern, sondern „unverantwo­rtliche und unregulier­te Straßenhoc­hzeiten“.

Umstritten sind auch andere Veranstalt­ungen. Regierungs­kritiker beklagten, bei einem Besuch von Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Schwarzmee­rküste hätten sich viele Menschen vor dem Lautsprech­erwagen des Staatschef­s gedrängt, ohne dass irgendjema­nd auf die Abstandsre­geln geachtet habe.

Die verstärkte Ankunft russischer Touristen an türkischen Stränden seit Anfang August weckt zudem ernst zu nehmende Befürchtun­gen: Die Urlauber würden trotz der Existenz eines Hygienekon­zepts nicht auf Corona getestet, kritisiert­e Nursel Sahin, die Vorsitzend­e der Ärztekamme­r in der Ferienprov­inz Antalya. In der Folge steige die Zahl der Corona-infektione­n bei Hotelmitar­beitern an. In Antalya gebe es derzeit mehr Infektione­n als am Höhepunkt der ersten Krankheits­welle im März, sagte sie.

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Foto: Yasin Akgul, dpa Insgesamt sind rund 270 000 Menschen in der Türkei an Covid-19 erkrankt, 7,5 Prozent davon schwer.

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