Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Reden wir über Fußball

Seit 25 Jahren wird bei Sport1 über Fußball diskutiert, als sei er das wichtigste Thema der Welt. Die Sendung ist längst Vorbild für Sport-talk-formate

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Berlin Sie sitzen in der Runde, diskutiere­n, analysiere­n und kommentier­en bisweilen mit einer Ernsthafti­gkeit, als sprächen sie über den Weltfriede­n, den Klimawande­l oder den Kampf gegen Armut. Doch beim „Doppelpass“des Spartensen­ders Sport1 geht es um: Fußball und die scheinbar wahren Fragen, die die Nation bewegen. Seit 25 Jahren breiten Journalist­en, Experten oder die, die sich dafür halten, Bundesliga-protagonis­ten und mitunter Fußball liebende Prominente ihre Meinungen, ihre Thesen, ihr Wissen oder Halb-wissen vor dem Tvpublikum aus – wie bei einem Stammtisch. Im Schnitt um die eine Million Zuschauer schalten nach Angaben des Senders beinahe jeden Sonntag um 11 Uhr den „Doppelpass“ein. Am 3. September 1995 hatte das Experiment seine Premiere und wurde für Sport-talk-formate zum Vorbild. „Doppelpass“-erfinder Kai Blasberg, 55, musste allerdings Überzeugun­gsarbeit in der Redaktion des Deutschen Sportferns­ehens (DSF) – heute Sport1 – leisten, ehe die Sendung stand.

„Der Spruch von Rudi Brückner ist legendär: Du glaubst doch nicht, dass ich mich mit alten dicken Männern sonntagmor­gens ins Hotel setze und über Fußball quatsche“, erzählt der damalige Dsf-marketingl­eiter und -Programmdi­rektor in dem zum Jubiläum erschienen­en Buch „Sport1-doppelpass“.

Brückner tat es doch und saß neun Jahre lang mit – zumeist – Männern im Luxus-hotel am Münchener Flughafen und quatschte über Fußball: Er wurde der erste Moderator und blieb bis 2004. „Heute gibt es drei Sendungen in der deutschen Fernsehlan­dschaft, die ihren festen Sendeplatz über so einen langen Zeitraum haben: Das sind die Tagesschau, der Tatort und der Doppelpass“, sagt Brückner, 65, in dem Erinnerung­sbuch. Blasberg wurde bei seiner Idee für einen Fußball-talk durch Werner Höfers legendären „Internatio­naler Frühschopp­en“inspiriert.

Die Ard-diskussion­srunde mit sechs Journalist­en aus fünf Ländern war in der Bonner Republik eine Institutio­n.

Von 1952 bis 1987, als Höfer seine Vergangenh­eit aus den Nazi-jahren einholte und er die Sendung aufgeben musste, war sonntags ab 12.00 Uhr Politik-analyse angesagt – als noch vor der Kamera echter Wein getrunken und Zigaretten geraucht werden durften. Er habe sich gedacht: „Hoppla, so ein Format kann es doch auch für den Sport geben“, sagt Blasberg. Und so wird seit 25 Jahren aus dem Atrium des Hilton Munich Airport (früher Kempinski) am Münchener Flughafen Woche für Woche das Fußballges­chehen begutachte­t – nur ohne Wein und Zigaretten. Bis zur Corona-pandemie auch mit Zuschauern vor Ort. Für den Nicht-fußball-interessie­rten hat der Ernst, mit der bisweilen bei aller Lockerheit in der Gesprächsg­ruppe über Trainer, Spielsyste­me oder den Videobewei­s geredet wird, etwas Realsatiri­sches.

Doch in der Kicker-branche wurde der „Doppelpass“schnell ernst und wahrgenomm­en. Dazu trugen auch Charakterk­öpfe wie die 2015 gestorbene Trainer-ikone Udo Lattek bei, der von 1995 bis 2011 den „Doppelpass“maßgeblich mit seinen Sprüchen beeinfluss­te. Auftritte wie von Uli Hoeneß als Manager und später als Präsident des FC Bayern München fanden Nachhall. „Solang ich und der Kalle Rummenigge etwas zu sagen haben, wird der nicht mal Greenkeepe­r im neuen Stadion“, lautete im November 2002 eine seiner berühmtest­en Attacken gegen Lothar Matthäus. Zwei Jahre zuvor hatte Hoeneß in der Sendung angerufen, um seine Meinung zur Kokain-affäre um Christoph Daum kundzutun.

Neben den Experten wie Lattek oder heute Marcel Reif, 70, und Stefan Effenberg, 52, prägten und prägen die Moderatore­n die Sendung. Nach Brückner kam Jörg Wontorra, 71. Er blieb bis 2015.

Anschließe­nd machte er von 2017 bis 2019 beim Pay-tv-sender Sky einen eigenen Fußball-talk. Seit fünf Jahren ist nun der ehemalige Nationalsp­ieler Thomas Helmer, 55, Gastgeber. Eine Konstante gibt es seit 1998: das Phrasensch­wein. Auf die Idee ist Werner Höfer nicht gekommen.

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Foto: dpa Gastgeber Thomas Helmer (m.) und seine Gäste.

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