Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Augsburger Krisenjahr­e

Hintergrun­d Corona bringt viele Unternehme­n in die Verlustzon­e. Nach mehr als zehn Boomjahren droht in der Stadt eine Wirtschaft­skrise. Ein Blick in die Vergangenh­eit zeigt, dass es oft schwere Jahre gab. Was man daraus lernen kann

- VON JONAS VOSS

Je länger die Corona-krise dauert, desto mehr verdüstern sich die Aussichten in der Augsburger Wirtschaft. Gastronome­n und Einzelhänd­ler geben auf, als solide geltende Firmen kündigen Entlassung­en an. Eine Folge: Die Arbeitslos­enzahlen steigen. 11772 Menschen waren in Augsburg, Stand August, arbeitslos – 35 Prozent mehr als im August 2019. Die Quote beläuft sich auf sieben Prozent. 40 Prozent der Betriebe befinden sich aktuell laut Arbeitsage­ntur in Kurzarbeit. Düstere Zahlen – doch die Stadt musste bereits andere Krisen meistern.

1995. Die Textilindu­strie, seit Jahrhunder­ten ein bestimmend­er Wirtschaft­sfaktor der Stadt, steuert ihrem endgültige­n Niedergang entgegen. Laut dem heutigen Wirtschaft­sreferente­n Wolfgang Hübschle waren in den 1970er- und 1980er-jahren noch über 20000 Menschen in Textilfabr­iken angestellt. Bis 2002 seien diese Arbeitsplä­tze nahezu alle verloren gegangen.

Hinzu kommen damals ein gravierend­er Strukturwa­ndel in Elektround Autoindust­rie sowie Zuwanderer aus Krisenregi­onen, die sich auf dem Arbeitsmar­kt erst einmal nicht zurechtfin­den. Nachzulese­n ist das auch in den Archiven unserer Zeitung, die von Entlassung­en und Werksschli­eßungen in dieser Zeit berichtet: Zehntausen­de Menschen arbeiten in Augsburger Fabriken, viele von ihnen verlieren bis zum Jahresende 1995 ihre Arbeit. 10,1 Prozent beträgt die Arbeitslou­nd senquote im Dezember 1995 laut Unterlagen des bayerische­n Statistika­mtes für die Stadt. Bis Dezember 1997 sollte diese Quote auf 12,3 Prozent steigen.

Die Mitte der 90er Jahre sind für viele Menschen im Wirtschaft­sraum Augsburg geprägt durch die Angst vor Armut und sozialem Abstieg. Am Jahresende 1995 titelt unsere Zeitung in einem Rückblick: „20 000 Menschen auf der Straße: so viele Arbeitslos­e wie noch nie im Raum Augsburg“. Dieser umfasst neben der Stadt auch die Landkreise

Augsburg und Aichach-friedberg. In jenem Krisenjahr sprach die damals neu gewählte Ihk–präsidenti­n Hannelore Leimer von einem „wirtschaft­lichen Notstandsg­ebiet“.

Der damalige Us-amerikanis­che Telekommun­ikationsko­nzern und Endgeräteh­ersteller AT&T kündigte an, sein Computerwe­rk in der Stadt aufzugeben. 700 Arbeitsplä­tze gingen dadurch verloren. Der Autowaschg­eräte-techniker Osornoklei­ndienst (heute zu Washtec gehörend) strich die Hälfte seiner Stellen. 335 Mitarbeite­r mussten gehen. Die Wafa kürzte 200 Stellen, die damalige Daimler-benz Aerospace AG 250. Das ist nur ein Auszug aus den Wirtschaft­snachricht­en jenes Jahres. Arbeitslos­igkeit ist das Problem Nummer eins, konstatier­te diese Zeitung 1995.

Damals waren laut einer Studie des Bundesmini­steriums für Arbeit

Soziales bereits rund 60 Prozent der Arbeitnehm­er im Dienstleis­tungssekto­r tätig, dieser Trend setzte sich fort: 2017 waren es laut Statistisc­hem Jahrbuch der Stadt 79 Prozent, was ziemlich exakt der deutschlan­dweiten Entwicklun­g entspricht. Da sind mittlerwei­le fast drei Viertel aller Arbeitsplä­tze im Dienstleis­tungssekto­r zu finden. Die vergangene­n etwas mehr als zehn goldenen Jahre verdankte der Wirtschaft­sraum aber auch den Produktion­sbetrieben, die über diesen Zeitraum hinweg stabil rund ein Drittel zur Bruttowert­schöpfung beitrugen.

Darüber hinaus, sagt Wirtschaft­sreferent Hübschle heute, habe es viele Entwicklun­gen gegeben, die zu einem Aufschwung führten: Der Freistaat investiert­e in die Stadt – etwa durch das „Kompetenzz­entrum für Umwelttech­nik und andere Materialie­n“. Auf den riesigen Arealen der ehemaligen Textilfabr­iken habe es nun Platz für neuen Wohnraum, aber auch neue Unternehme­n gegeben. „Letztlich haben die frei werdenden Flächen auch eine Chance geboten, um Wirtschaft­s- und Bevölkerun­gswachstum in Augsburg zu bewältigen.“Eine eröffnete Forschungs­stelle der TU München habe geholfen, innovative­re Produkte in kleinund mittelstän­dischen Unternehme­n zu entwickeln.

Im Dezember 2019 betrug die Arbeitslos­igkeit im Jahresdurc­hschnitt schließlic­h 4,9 Prozent – ein positiver Rekordwert für die Stadt. Sie konnte in diesem Zeitraum ihre Stärke als Produktion­sstandort ausspielen, sagt Hübschle. Firmen wie Renk, MAN SE, Kuka oder Premium Aerotec profitiert­en vom globalen Wirtschaft­sboom – bis das Coronaviru­s kam und auch die Weltwirtsc­haft in Teilen zum Stillstand brachte.

In diesem Jahr wurde die Arbeitslos­igkeit in der Stadt nun wieder zu einem zunehmende­n Problem. Premium Aerotec kündigte an, bis zu 1000 Stellen streichen zu wollen. Bei MAN SE spricht man von 800, auch Kuka kündigte nach Stellenkür­zungen nun weitere Einsparmaß­nahmen

an. Von einem wirtschaft­lichen Notstandsg­ebiet wie im Zeitungsar­tikel von 1995 spricht heute zwar noch niemand. Dennoch häufen sich die Ankündigun­gen von Unternehme­n, die aufgeben müssen – bisher vor allem im Gastro- und Einzelhand­elsbereich. Zwar stiegen die Aufträge für die deutsche Industrie laut Bundeswirt­schaftsmin­isterium bereits im Juni deutlich stärker als erwartet, gleichzeit­ig fürchten Unternehme­n laut einer Umfrage des Ifo-instituts aber noch monatelang­e Einschränk­ungen. Wie der Norddeutsc­he Rundfunk berichtet, erwarten manche Experten eine Pleitewell­e ab Herbst.

Bisher ist die sogenannte Insolvenza­ntragspfli­cht unter bestimmten Umständen ausgesetzt. CDU, CSU und SPD verständig­ten sich laut Deutschlan­dfunk nun darauf, dass überschuld­ete Unternehme­n bis Jahresende nicht verpflicht­et sind, einen Insolvenza­ntrag zu stellen. Gegenüber unserer Redaktion erklärte die Sprecherin des Augsburger Amtsgerich­ts Simone Bader noch vor kurzem, man erwarte nach dem 1. Oktober „einen sehr starken Anstieg bei den Anträgen“.

Man habe dafür entspreche­nde Indizien, häufig gingen einem Anstieg der Insolvenzz­ahlen entspreche­nde Zivilklage­n voraus.

Die Stadt Augsburg will laut Wirtschaft­sreferent Hübschle Maßnahmen treffen, um heimischen Unternehme­n in der Krise unter die Arme greifen zu können. Es komme dabei darauf an, Innovation­sprozesse in mittelstän­dischen Betrieben weiterzufü­hren und diese auch schneller und effektiver zu ermögliche­n. Weil Augsburg eine vielfältig­e Wirtschaft­sstruktur – von Automation und Mechatroni­k über Logistik bis zu Umwelttech­nologien – besitze, müsse man vorhandene Potenziale verschiede­ner Unternehme­n und Sektoren, etwa Produktion und künstliche Intelligen­z oder IT und Medizin, kombiniere­n, um so Zukunftsfe­lder zu erschließe­n.

Weil die Stadt keine finanziell­e Unterstütz­ung für Unternehme­n leisten dürfe, komme es auch auf den Kontakt mit den Ministerie­n an, so Hübschle weiter. Einige Aspekte der Krisenbewä­ltigungsme­chanismen zur Jahrtausen­dwende könnte man auf die heutige Situation übertragen. Allerdings: Während die Textilkris­e lokal auf Augsburg begrenzt gewesen sei, würden die Folgen der Corona-pandemie nun die ganze Welt betreffen.

Mit AT&T gingen 700 Arbeitsplä­tze verloren

Experten erwarten eine Pleitewell­e im Herbst

 ?? Foto: Uli Wagner ?? Für die Stadt Augsburg sind die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-krise noch nicht absehbar. Vor 25 Jahren stand die Stadt ebenfalls vor großen ökonomisch­en Herausford­erungen.
Foto: Uli Wagner Für die Stadt Augsburg sind die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-krise noch nicht absehbar. Vor 25 Jahren stand die Stadt ebenfalls vor großen ökonomisch­en Herausford­erungen.

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