Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Russland hat wirtschaftlich viel zu verlieren
Forderungen nach Sanktionen und Stopp von Nord Stream 2 werden laut
Berlin Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland stehen vor einer neuen Eiszeit. Wegen des Giftattentats auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wird der Ruf nach weiteren Wirtschaftssanktionen laut. Sogar der Baustopp der vor der Vollendung stehenden Gaspipeline Nord Stream 2 wird ins Spiel gebracht. Russische und deutsche Unternehmen haben zehn Milliarden Euro in die Röhre unter der Ostsee investiert, die dadurch versenkt würden.
Kanzlerin Angela Merkel will mit den EU- und Nato-partnern über Konsequenzen beraten. Der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft sorgt sich deshalb ums Geschäft: „Auf die Vergiftung Nawalnys mit weiteren Wirtschaftssanktionen zu reagieren, die dann wieder an der Sache völlig unbeteiligte Unternehmen und die russische Bevölkerung treffen würden, halten wir für falsch“, sagt Ostausschuss-chef Oliver Hermes. Zu einer Vermischung des Anschlags mit dem Bau der Gasröhre dürfe es nicht kommen.
Sollte es dennoch zu schweren ökonomischen Verwerfungen zwischen Russland auf der einen und Deutschland im Verbund mit den Europäern auf der anderen Seite kommen, hat der Kreml die schlechteren Karten. Zwar liefert Russland sowohl 40 Prozent des deutschen als auch des Erdgasbedarfs der EU – den Hahn zudrehen kann es aber kaum. Denn der Staatshaushalt ist auf die Einnahmen angewiesen. Der Verkauf von Öl und Gas finanziert das Budget zur Hälfte. Präsident Wladimir Putin braucht den Absatz in Europa, denn in China bekommt er für sein Gas nicht so viel Geld wie in der EU. Selbst während des Kalten Krieges hat Moskau zuverlässig Gas nach Westen gepumpt. Über den Rohstoffexport hinaus hat das riesige Land dem Westen wenig zu bieten.
Der Handel mit Europa läuft durch die seit 2014 bestehenden Sanktionen ohnehin kraftlos.
Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, warnt trotzdem vor einem Boykott – aus politischen Gründen: „Wir brauchen Russland in der Klimapolitik, in der Ukrainepolitik, in vielen anderen Bereichen. Wir können jetzt nicht sozusagen hier eine Mauer aufziehen zwischen dem Westen und Russland.“
FDP und Grüne sprechen sich dafür aus, nicht ganze Branchen in Haftung zu nehmen, sondern das Vermögen kremltreuer Oligarchen. Die Geschäftsleute sind eine wichtige Stütze der Herrschaft von Wladimir Putin. Wie viel Vermögen die reichen Russen in Deutschland haben, ist unklar. Dem Finanzministerium liegen nicht einmal Schätzungen vor. Großbritannien hatte sich nach dem Giftattentat auf den ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal vor zwei Jahren nicht getraut, die Vermögen reicher Russen anzutasten. Der britischen Hauptstadt trug das den Namen Londongrad ein, weil die Oligarchen dort Immobilien in großem Stil besitzen.
Die Russland-expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik fordert eine umfassende Strategie. Berlin lasse sich von Moskau treiben. „Russland bestimmt den Kurs“, sagt Alena Epifanova. Dabei werde das Land immer repressiver und brutaler. „Russland ist eine absteigende Wirtschaftsmacht mit großen geopolitischen Ansprüchen“, sagt Epifanova. „Für den Kreml ist es also perfekt, dass er nun wieder die Aufmerksamkeit der ganzen Welt hat.“Er wolle zeigen, wozu er fähig sei und dass er trotzdem keine Konsequenzen zu befürchten habe. „Mit so einem Regime können Deutschland und die EU nicht mehr kooperieren – oder zumindest nur in einem sehr engen Rahmen“, sagt die Wissenschaftlerin. Es sei höchste Zeit, rote Linien zu ziehen.
Man stelle sich vor, Wladimir Putin wäre Präsident einer kleinen früheren Sowjet-teilrepublik. So wie Lukaschenko. Ein Präsident, der die demokratischen Grundrechte mit Füßen tritt, der – zumindest politisch, sehr wahrscheinlich auch persönlich – dafür verantwortlich ist, dass Oppositionelle vergiftet oder erschossen werden. Schnell würde der Westen darüber diskutieren, diesen autoritären Herrscher und dessen Entourage nicht mehr einreisen zu lassen und Auslandskonten zu sperren. So wie bei Lukaschenko.
Hinkt der Vergleich? Tatsächlich, er ist etwas schräg. Allein schon, weil Putin eben Präsident einer militärisch-atomar hochgerüsteten Weltmacht ist. Aber sonst? Die Kette der Fälle von Morden an Kreml-gegnern ist lang. 2006 starb
Alexander Litwinenko, vergiftet mit Polonium. Vor zwei Jahren wurde der frühere Agent Sergej Wiktorowitsch Skripal in England ebenfalls Opfer eines Giftanschlags. Schneller trat der Tod bei den Regimegegnern Anna Politkowskaja 2006 und Boris Nemzow im Jahr 2015 ein. Beide wurden, wie in einem billigen Spionagethriller, mit der Pistole liquidiert. Und Alexej Nawalny, das steht nun glasklar fest, wurde ebenfalls vergiftet.
Natürlich ist es nicht leicht, Putin direkt für diese Taten verantwortlich zu machen. Wobei es schwerfällt, zu glauben, dass der Ex-geheimdienstler in solch weittragende Vorgänge nicht eingeweiht gewesen sein soll. Fest steht, dass der 69-Jährige in Russland die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Morde zum Repertoire der politischen Auseinandersetzungen zählen. So wie bei Lukaschenko.
Ebenfalls vergleichbar ist, dass Verbrechen in Russland wie in Belarus ganz unverhohlen als Warnung an die Opposition adressiert sind: Seht her, wer gegen uns ist, der lebt gefährlich. So ist die primitive
Botschaft. Umso schlimmer ist, dass autoritäre Figuren auch im Westen offensichtlich an Ansehen gewonnen haben. Natürlich mit Abstufungen. In den USA regiert mit Donald Trump ein Narzisst, der das Lügen noch besser beherrscht als den Golfball. In Brasilien hält sich mit Jair Bolsonaro ein Mann an der Macht, der die Demokratie offen verachtet, Indigene zur Hölle wünscht und die Abholzung des Regenwaldes als Konjunkturprogramm vorantreibt. Der türkische Sultan Recep Tayyip Erdogan rüstet auf und drangsaliert eine ganze Region mit seinen Allmachtsfantasien. Nun könnte man sagen: Das ist alles nicht schön, aber leider nicht zu ändern. Doch das wäre nicht nur unredlich, sondern würde auf Dauer die eigene Identität, die auf Pluralismus und Humanismus basiert, aushöhlen.
Es gibt keine Alternative. Der Westen – zumindest der Teil davon, der sich noch immer zu den Idealen desselben bekennt – muss gegenhalten. Und dabei auch ökonomische Nachteile in Kauf nehmen. Der russisch-deutsche Erdgasdeal um Nord Stream 2 war in diesem Zusammenhang eine grundfalsche Entscheidung. Nicht, weil die USA das Geschäft aus eigennützigem Kalkül verhindern wollen, sondern weil das Vorhaben Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas auf Kosten anderer, befreundeter Staaten vergrößern würde. Jetzt ist es fast zu spät, das weit gediehene Projekt zu stoppen. Zu Ende bauen oder stoppen – beide Optionen sind vergiftet. Putin reibt sich die Hände, egal ob das Gas letztlich fließt oder nicht.
Natürlich muss man mit Moskau reden, aber die Zeit der Leisetreterei sollte nun endgültig zu Ende sein. Putin, Bolsonaro, Erdogan und Co. verstehen nur klare Ansagen. Doch dazu braucht Europa den Willen, wirtschaftliche Macht politisch und militärisch zu untermauern.
Das Projekt Nord Stream 2 war von Anfang an falsch