Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Russland hat wirtschaft­lich viel zu verlieren

Forderunge­n nach Sanktionen und Stopp von Nord Stream 2 werden laut

- VON CHRISTIAN GRIMM UND MARGIT HUFNAGEL

Berlin Die Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d und Russland stehen vor einer neuen Eiszeit. Wegen des Giftattent­ats auf den russischen Opposition­spolitiker Alexej Nawalny wird der Ruf nach weiteren Wirtschaft­ssanktione­n laut. Sogar der Baustopp der vor der Vollendung stehenden Gaspipelin­e Nord Stream 2 wird ins Spiel gebracht. Russische und deutsche Unternehme­n haben zehn Milliarden Euro in die Röhre unter der Ostsee investiert, die dadurch versenkt würden.

Kanzlerin Angela Merkel will mit den EU- und Nato-partnern über Konsequenz­en beraten. Der Ostausschu­ss der deutschen Wirtschaft sorgt sich deshalb ums Geschäft: „Auf die Vergiftung Nawalnys mit weiteren Wirtschaft­ssanktione­n zu reagieren, die dann wieder an der Sache völlig unbeteilig­te Unternehme­n und die russische Bevölkerun­g treffen würden, halten wir für falsch“, sagt Ostausschu­ss-chef Oliver Hermes. Zu einer Vermischun­g des Anschlags mit dem Bau der Gasröhre dürfe es nicht kommen.

Sollte es dennoch zu schweren ökonomisch­en Verwerfung­en zwischen Russland auf der einen und Deutschlan­d im Verbund mit den Europäern auf der anderen Seite kommen, hat der Kreml die schlechter­en Karten. Zwar liefert Russland sowohl 40 Prozent des deutschen als auch des Erdgasbeda­rfs der EU – den Hahn zudrehen kann es aber kaum. Denn der Staatshaus­halt ist auf die Einnahmen angewiesen. Der Verkauf von Öl und Gas finanziert das Budget zur Hälfte. Präsident Wladimir Putin braucht den Absatz in Europa, denn in China bekommt er für sein Gas nicht so viel Geld wie in der EU. Selbst während des Kalten Krieges hat Moskau zuverlässi­g Gas nach Westen gepumpt. Über den Rohstoffex­port hinaus hat das riesige Land dem Westen wenig zu bieten.

Der Handel mit Europa läuft durch die seit 2014 bestehende­n Sanktionen ohnehin kraftlos.

Der Leiter der Münchner Sicherheit­skonferenz, Wolfgang Ischinger, warnt trotzdem vor einem Boykott – aus politische­n Gründen: „Wir brauchen Russland in der Klimapolit­ik, in der Ukrainepol­itik, in vielen anderen Bereichen. Wir können jetzt nicht sozusagen hier eine Mauer aufziehen zwischen dem Westen und Russland.“

FDP und Grüne sprechen sich dafür aus, nicht ganze Branchen in Haftung zu nehmen, sondern das Vermögen kremltreue­r Oligarchen. Die Geschäftsl­eute sind eine wichtige Stütze der Herrschaft von Wladimir Putin. Wie viel Vermögen die reichen Russen in Deutschlan­d haben, ist unklar. Dem Finanzmini­sterium liegen nicht einmal Schätzunge­n vor. Großbritan­nien hatte sich nach dem Giftattent­at auf den ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal vor zwei Jahren nicht getraut, die Vermögen reicher Russen anzutasten. Der britischen Hauptstadt trug das den Namen Londongrad ein, weil die Oligarchen dort Immobilien in großem Stil besitzen.

Die Russland-expertin der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik fordert eine umfassende Strategie. Berlin lasse sich von Moskau treiben. „Russland bestimmt den Kurs“, sagt Alena Epifanova. Dabei werde das Land immer repressive­r und brutaler. „Russland ist eine absteigend­e Wirtschaft­smacht mit großen geopolitis­chen Ansprüchen“, sagt Epifanova. „Für den Kreml ist es also perfekt, dass er nun wieder die Aufmerksam­keit der ganzen Welt hat.“Er wolle zeigen, wozu er fähig sei und dass er trotzdem keine Konsequenz­en zu befürchten habe. „Mit so einem Regime können Deutschlan­d und die EU nicht mehr kooperiere­n – oder zumindest nur in einem sehr engen Rahmen“, sagt die Wissenscha­ftlerin. Es sei höchste Zeit, rote Linien zu ziehen.

Man stelle sich vor, Wladimir Putin wäre Präsident einer kleinen früheren Sowjet-teilrepubl­ik. So wie Lukaschenk­o. Ein Präsident, der die demokratis­chen Grundrecht­e mit Füßen tritt, der – zumindest politisch, sehr wahrschein­lich auch persönlich – dafür verantwort­lich ist, dass Opposition­elle vergiftet oder erschossen werden. Schnell würde der Westen darüber diskutiere­n, diesen autoritäre­n Herrscher und dessen Entourage nicht mehr einreisen zu lassen und Auslandsko­nten zu sperren. So wie bei Lukaschenk­o.

Hinkt der Vergleich? Tatsächlic­h, er ist etwas schräg. Allein schon, weil Putin eben Präsident einer militärisc­h-atomar hochgerüst­eten Weltmacht ist. Aber sonst? Die Kette der Fälle von Morden an Kreml-gegnern ist lang. 2006 starb

Alexander Litwinenko, vergiftet mit Polonium. Vor zwei Jahren wurde der frühere Agent Sergej Wiktorowit­sch Skripal in England ebenfalls Opfer eines Giftanschl­ags. Schneller trat der Tod bei den Regimegegn­ern Anna Politkowsk­aja 2006 und Boris Nemzow im Jahr 2015 ein. Beide wurden, wie in einem billigen Spionageth­riller, mit der Pistole liquidiert. Und Alexej Nawalny, das steht nun glasklar fest, wurde ebenfalls vergiftet.

Natürlich ist es nicht leicht, Putin direkt für diese Taten verantwort­lich zu machen. Wobei es schwerfäll­t, zu glauben, dass der Ex-geheimdien­stler in solch weittragen­de Vorgänge nicht eingeweiht gewesen sein soll. Fest steht, dass der 69-Jährige in Russland die Voraussetz­ungen dafür geschaffen hat, dass Morde zum Repertoire der politische­n Auseinande­rsetzungen zählen. So wie bei Lukaschenk­o.

Ebenfalls vergleichb­ar ist, dass Verbrechen in Russland wie in Belarus ganz unverhohle­n als Warnung an die Opposition adressiert sind: Seht her, wer gegen uns ist, der lebt gefährlich. So ist die primitive

Botschaft. Umso schlimmer ist, dass autoritäre Figuren auch im Westen offensicht­lich an Ansehen gewonnen haben. Natürlich mit Abstufunge­n. In den USA regiert mit Donald Trump ein Narzisst, der das Lügen noch besser beherrscht als den Golfball. In Brasilien hält sich mit Jair Bolsonaro ein Mann an der Macht, der die Demokratie offen verachtet, Indigene zur Hölle wünscht und die Abholzung des Regenwalde­s als Konjunktur­programm vorantreib­t. Der türkische Sultan Recep Tayyip Erdogan rüstet auf und drangsalie­rt eine ganze Region mit seinen Allmachtsf­antasien. Nun könnte man sagen: Das ist alles nicht schön, aber leider nicht zu ändern. Doch das wäre nicht nur unredlich, sondern würde auf Dauer die eigene Identität, die auf Pluralismu­s und Humanismus basiert, aushöhlen.

Es gibt keine Alternativ­e. Der Westen – zumindest der Teil davon, der sich noch immer zu den Idealen desselben bekennt – muss gegenhalte­n. Und dabei auch ökonomisch­e Nachteile in Kauf nehmen. Der russisch-deutsche Erdgasdeal um Nord Stream 2 war in diesem Zusammenha­ng eine grundfalsc­he Entscheidu­ng. Nicht, weil die USA das Geschäft aus eigennützi­gem Kalkül verhindern wollen, sondern weil das Vorhaben Deutschlan­ds Abhängigke­it von russischem Gas auf Kosten anderer, befreundet­er Staaten vergrößern würde. Jetzt ist es fast zu spät, das weit gediehene Projekt zu stoppen. Zu Ende bauen oder stoppen – beide Optionen sind vergiftet. Putin reibt sich die Hände, egal ob das Gas letztlich fließt oder nicht.

Natürlich muss man mit Moskau reden, aber die Zeit der Leisetrete­rei sollte nun endgültig zu Ende sein. Putin, Bolsonaro, Erdogan und Co. verstehen nur klare Ansagen. Doch dazu braucht Europa den Willen, wirtschaft­liche Macht politisch und militärisc­h zu untermauer­n.

Das Projekt Nord Stream 2 war von Anfang an falsch

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