Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Immer wieder Gift

Russische Regierungs­kritiker leben in ständiger Gefahr. Ihr Todesstoß kommt oft still und unsichtbar

- VON VERA KRAFT

Angsburg Ein Schuss ist laut, blutig, auffällig. Etwas Gift in den Tee gerührt ist dagegen unsichtbar und lautlos – zumindest so lange bis das Opfer vor Schmerzen schreit. So erlebte es auch Alexej Nawalny, kurz nachdem er am Flughafen eine Tasse Tee getrunken hatte und kurz bevor er im Flugzeug vor Schmerzen zusammenbr­ach und nach einer Notlandung bewusstlos ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werden musste. Der Fall des Kreml-kritikers ist kein Einzelfall: In den vergangene­n Jahren wurden immer wieder Regierungs­skeptiker mit Vergiftung­ssymptomen behandelt. Dabei weisen nicht nur die Krankheits­bilder, sondern auch die offizielle­n Statements von russischer Seite unübersehb­are Ähnlichkei­ten auf.

In der ersten Amtszeit des Präsidente­n Wladimir Putin, im Jahre 2003, starb der Journalist und liberale Abgeordnet­e des russischen Unterhause­s, Duma Juri Schtscheko­tschichin, unter ungeklärte­n Umständen. Wie Nawalny engagierte er sich gegen Korruption und Organisier­tes Verbrechen in Russland. Nach seinem Tod bekamen nicht einmal die engsten Angehörige­n Einsicht in die medizinisc­hen Akten. Die Behörden wiesen den Verdacht auf Vergiftung zurück. Es hieß, Schtscheko­tschichin habe eine heftige allergisch­e Reaktion erlitten.

Ein Jahr später erkrankte die Investigat­iv-journalist­in und Menschenre­chtsaktivi­stin Anna Politkowsk­aja schwer, nachdem sie eine Tasse Tee getrunken hatte. Für die regierungs­kritische Zeitung Nowaja Gaseta schrieb Politkowsk­aja unter anderem über Menschenre­chtsverlet­zungen im zweiten Tschetsche­nienkrieg Russlands. Sie erholte sich von dem mutmaßlich­em Giftanschl­ag. 2006 wurde sie dann in Moskau vor ihrer Wohnung erschossen.

Kurz nach Politkowsk­ajas Ermordung starb der russische Ex-geheimagen­t Alexander Litwinenko an einer Vergiftung durch radioaktiv­es Polonium. Nach seiner Arbeit als Agent beim FSB, der Nachfolgeo­rganisatio­n des Geheimdien­stes KGB, war er zu einem harten Kritiker Putins geworden und schließlic­h nach London ins Exil geflohen. Dort arbeitete er später beim britischen Geheimdien­st MI6. Zehn Jahre nach seinem Tod urteilte ein britischer Richter, dass Putin die Ermordung „wahrschein­lich gebilligt“habe.

Der Journalist und Opposition­elle Wladimir Kara-mursa wurde gleich zweimal mit Vergiftung­serscheinu­ngen ins Krankenhau­s gebracht.

Das erste Mal, 2015, erlag er beinahe einem plötzliche­n Nierenvers­agen. Das war kurz nachdem der Opposition­spolitiker Boris Nemzow, für den Kara-mursa als Berater arbeitete, in Moskau erschossen wurde. Im Februar 2017 wurde Kara-mursa mit ähnlichen Symptomen in die Intensivst­ation eingeliefe­rt und ins künstliche Koma versetzt. Die Ursache war laut seinem Anwalt der „toxische Einfluss einer unbekannte­n Substanz“. Beide Male überlebte Kara-mursa mit viel Glück. Er sagte in der Zeit: „Die Sicherheit­sdienste lieben Gift, denn sie können mit den Schultern zucken und sagen: Wo sind die Beweise? Wir wissen nicht, was mit Ihnen los ist. Vielleicht was Falsches gegessen? So läuft es jedes Mal.“

Für viel Aufsehen sorgte auch die Geschichte von Sergej Skripal, der zusammen mit seiner Tochter im März 2018 bewusstlos auf einer Parkbank in England aufgefunde­n wurde. Skripal arbeitete als Doppelagen­t für Russland und Großbritan­nien. Wie nun aktuell auch Nawalny waren Skripal und seine Tochter mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden – die beiden entgingen damals nur knapp dem Tod. Der Kampfstoff zählt zu einem der tödlichste­n überhaupt und wurde in den 1970er und 80er Jahren in der Sowjetunio­n entwickelt. Die Spuren des Mordversuc­hs führten nach Russland – dort wies man jegliche Beschuldig­ungen als „russophobe Attacken“ab.

Gerade ein Nervengift wie Nowitschok sei sehr schwer nachzuweis­en, sagt Alena Epifanova, Russlandex­pertin der Deutschen Gesellscha­ft für Internatio­nale Politik. „Auch im Fall Nawalny steht die Aussage der Ärzte der Charité gegen die Aussage der russischen Ärzte. In den staatliche­n russischen Medien wird zudem der Verdacht geschürt, dass die Vergiftung erst in Berlin geschehen sei.“Aktivist Pjotr Wersilow kam ebenfalls 2018 mit starken Anzeichen für eine Vergiftung in ein Moskauer Krankenhau­s. Er wurde einige Tage später bewusstlos in die Berliner Charité ausgefloge­n und dort behandelt. Nun hat sich Wersilow dafür eingesetzt, dass auch Nawalny diese Behandlung in Berlin ermöglicht wird. Er selbst wurde damals wahrschein­lich unter anderem wegen seiner Recherche über drei ermordete Journalist­en in Afrika angegriffe­n.

Die Liste der Giftanschl­äge soll vor allem eines zeigen: „Niemand soll sich sicher fühlen, jeder könnte in eine ähnliche Falle geraten“, so Russlandex­pertin Epifanova. Denn während das Gift dem Täter genug Zeit gibt, vom Tatort zu verschwind­en, sieht die Familie das Opfer leiden. Doch „nicht nur die Angehörige­n sollen dadurch Angst bekommen, sondern auch alle anderen, die Kritik an der russischen Regierung üben“.

Tatsächlic­h ist diese Machterhal­tungsmetho­de aber nicht nur in Russland bekannt: Im Februar 2017 wurde der Halbbruder des nordkorean­ischen Machthaber­s Kim Jong Un in Malaysia mit dem chemischen Kampfstoff VX ermordet – ursprüngli­ch galt er als erster Anwärter für die Nachfolge des Vaters.

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Kim Jong Nam
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A. Politkowsk­aja
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S. Skripal
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A. Nawalny

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