Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die neuen Kinder von Golzow

Ein Örtchen an der polnischen Grenze hat drei syrische Familien aufgenomme­n. Die Kinder retten die Grundschul­e, die Eltern finden Arbeit. Doch nicht überall im Osten Deutschlan­ds läuft es so gut. Die Flüchtling­skrise wurde bald zum Spaltpilz zwischen Ost

- VON CHRISTIAN GRIMM

Die Kinder von Golzow kennt jeder. Zumindest, wenn man aus dem Osten kommt. Der Lebensweg von 18 Jungen und Mädchen aus dem Dorf im Oderbruch wurde über Jahrzehnte mit der Kamera begleitet. Willy und Marieluise, Brigitte und Bernhard. Es ist die längste Dokumentat­ion der Filmgeschi­chte, begonnen 1961, beendet 2008. Doch vor fünf Jahren wären dem Dorf, das für seine Kinder berühmt ist, beinahe die Kinder ausgegange­n. In der Grundschul­e gab es nicht genügend Anmeldunge­n für die erste Klasse, es drohte die Schließung.

Golzow brauchte neue Kinder. Und sie kamen. Sie hatten andere Namen als ihre Vorgänger. Sie hießen Nour, Kamala und Bourhan. Ihre Mütter trugen Kopftücher, so wie die Frauen früher auf dem Land. Hinter sich gelassen hatten sie Krieg, Vertreibun­g und Flucht aus Syrien. Es gibt Golzower, die wollen helfen, andere fürchten sich. Die Stimmung ist so wie in vielen Dörfern Deutschlan­ds. Drei Familien nehmen sie schließlic­h in ihrer Mitte auf. „Da braucht man ein breites Kreuz und das hatte ich damals“, sagt Bürgermeis­ter Frank Schütz heute. In Golzow kennt jeder jeden. Einige Straßen, 800 Leute. Alle duzen sich. „Was du da machst, ist scheiße“, hat Schütz nicht nur einmal gehört, damals, im heißen Herbst des Jahres 2015.

Der Bürgermeis­ter ist hochgescho­ssen und in den einst schwarzen Schopf und den schwarzen Kinnbart mischen sich weiße und graue Haare. Der 50-Jährige wirkt dennoch jugendlich. Er ist bei der CDU, aber eigentlich, sagt er, spiele das hier keine Rolle. Politik macht er nur halbtags, arbeitet daneben in einer Firma als Kaufmann.

Bei einer Tasse Kaffee im Dorfladen blickt er zurück auf dieses Experiment, das mit dem großen Wort Integratio­n umschriebe­n wird. „Ja“, antwortet er ohne Umschweife auf die Frage, ob sie es in Golzow geschafft haben. Das Dorf ist in der paradoxen Situation, es so gut geschafft zu haben, dass die Neuankömml­inge schon wieder weg sind. Eine Familie hat sich ein Häuschen im Nachbardor­f gemietet, eine Familie ist in das 30 Kilometer entfernte Frankfurt an der Oder gezogen, weil sie dort leichter arbeiten können. Die dritte Familie ist auf dem Sprung nach Norddeutsc­hland, weil dort Verwandtsc­haft wohnt.

„Ich gehe davon aus, dass wir neue Flüchtling­e bekommen. Das wäre kein Problem“, sagt der stellvertr­etende Feuerwehrk­ommandant Marco Zich. Er sagt das nicht mit sorgenvoll­er Stimme, sondern freudig. Zwei Mädchen haben bei der Jugendfeue­rwehr mitgemacht. Jetzt gehen sie auf das Gymnasium in der Stadt und haben keine Zeit mehr. „Wir brauchen immer Leute für die Jugendfeue­rwehr“, sagt Zich. Die Gemüsefrau erzählt im Dorfladen davon, wie die Kinder und ihre Eltern beim Sonnenblum­enfest im Spätsommer umhergespr­ungen sind mit allen anderen. Dass sich die Eltern bemüht haben, nicht zu Hause zu sitzen, sondern irgendwie dazuzugehö­ren in diesem preußische­n Landstrich zehn Kilometer von Polen entfernt. „Es hat einfach funktionie­rt.“

Dass die Stimmung vor fünf Jahren damals nicht gekippt ist, hat viel damit zu tun, dass sich Schütz im heißen Flüchtling­sherbst gegen den Landrat durchsetzt­e. Der wollte 100 bis 150 Flüchtling­e in der Oderbruchh­alle unterbring­en, weil es in der Not an Wohnungen fehlte. Die Halle ist das kulturelle Zentrum der Gemeinde. Dort wird Sport gemacht oder bei Konzerten getanzt. „Das wollten wir nicht. Viele junge Männer, die nicht wissen, was sie tun sollen“, erinnert sich der Bürgermeis­ter. Auf einer Bürgervers­ammlung auf dem Dorfanger wird es laut, Schütz liest den Beschluss der Gemeinde in das Herbstdunk­el, der Landrat gibt nach. Die drei Familien kommen in Wohnungen unter, die der Gemeinde gehören. Sie leben nicht unter einem Dach, sondern in verschiede­nen Häuser. „Die sollten sich nicht einigeln“, sagt der Bürgermeis­ter.

Es ist nicht so, dass unter den Golzowern ausschließ­lich Flüchtling­sfreunde gelebt hätten. Die AFD, die wegen des Stroms der Schutzsuch­enden und der zeitweisen Überforder­ung des Staates ihre zweite Blüte erlebte, feiert im tiefen Osten Deutschlan­ds Wahlerfolg­e. In Golzow macht bei der Bundestags­wahl jeder Vierte sein Kreuz bei der Partei. In den neuen Ländern ist sie doppelt so stark wie im alten Westen. Der Flüchtling­sbeirat von Brandenbur­g sieht im Aufstieg der AFD einen Grund, warum Flüchtling­e Dörfer und Kleinstädt­e verlassen. Manche Gemeinscha­ften bleiben verschloss­en, manche Flüchtling­e wollen sich nicht integriere­n. Manchmal ist es von beidem etwas. Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) weiß, dass es nicht überall gelungen ist. Er ist dennoch stolz auf seine Brandenbur­ger. „Integratio­n erfordert Geduld und Ausdauer. Aber sie ist auch eine große Chance für unser Land“, sagt der Spd-politiker. Die Zahlen hat er parat: Mehr als 5.000 Flüchtling­e haben Arbeit, 16.000 gehen zur Schule. Insgesamt sind seit Angela Merkels historisch­er Entscheidu­ng 38 000 Asylbewerb­er in Brandenbur­g gelandet.

Der Osten tut sich schwer mit den

Flüchtling­en. Soziologen, Schriftste­ller und Politiker entdecken den Ossi neu. Mit den Flüchtling­en, die aus dem Nahen Osten oder Afrika in die Bundesrepu­blik kommen, werden auf einmal wieder die ehemaligen Ddr-bürger und ihre Kinder kritisch beäugt, die vor 30 Jahren dazugestoß­en sind. Auf einmal werden die vielen Erfolge der Wiedervere­inigung infrage gestellt, der große Graben ist tief wie lange nicht.

Einstige Opposition­elle wie Marianne Birthler sahen sorgenvoll, wie die AFD mit Parolen wie „Vollende die Wende“das Thema an sich gerissen und bei den Landtagswa­hlen in Sachsen, Brandenbur­g und Thüringen Rekorderge­bnisse eingefahre­n hat. In einer Erklärung verwahren sich ehemalige Bürgerrech­tler gegen die Afd-behauptung, dass nun ähnliche Verhältnis­se wie in der

DDR herrschten. Die Ziele der friedliche­n Revolution hätten sich doch erfüllt – Demokratie, Freiheit und Rechtsstaa­tlichkeit.

Die Schriftste­llerin Jana Hensel („Zonenkinde­r“) beklagte, dass Ostdeutsch­e und Migranten das gleiche Schicksal teilen. Ihnen, so sieht es Hensel, werden von der westdeutsc­hen Mehrheitsg­esellschaf­t Stigmata verpasst. Hier der undankbare Jammerossi, dort der gefährlich­e Muslim. In der Elite kommen beide Gruppen so gut wie nicht vor. Angela Merkel, Cem Özdemir und Joachim Gauck sind die absolute Ausnahme. Vorstandsc­hefs und Uni-rektoren aus dem Osten lassen sich an einer Hand abzählen. Hensel erregt mit ihrer Forderung nach einer Ost-quote für Spitzenpos­itionen in den neuen Ländern Aufsehen und erntet viel Widerspruc­h, gerade aus dem Osten.

Vor allem in Hensels Heimat Sachsen kommt es immer wieder zu brutalen Ausschreit­ungen und Anschlägen auf Flüchtling­sheime. Freital, Heidenau, Clausnitz. „Allmählich fragt man sich, was mit den Sachsen nicht stimmt“, leitete die Spiegel-tv-moderatori­n Maria Gresz am 22. Februar 2016 einen Beitrag über Clausnitz ein. In dem kleinen Erzgebirgs­ort hatten Anwohner die Zufahrt zu einem Asylheim blockiert und Flüchtling­e gar nicht erst aus dem Bus aussteigen lassen wollen. In Dresden laufen die Menschen der ausländerf­eindlichen Pegida-bewegung hinterher. Lutz Bachmann, einer der Anführer, ist inzwischen im Visier des Verfassung­sschutzes.

„Integriert doch erst mal uns“, heißt ein Buch der sächsische­n Integratio­nsminister­in Petra Köpping. Die SPD-FRAU ruft die Ostdeutsch­en auf, über die schweren Jahre nach der Wende zu sprechen, als Millionen Arbeitsplä­tze und damit der Lebensstol­z ausradiert wurden. Als die Starken es schafften oder gingen und die Schwachen blieben. Diese Demütigung aus den Brüchen der Biographie­n soll dafür verantwort­lich sein, dass im Osten mehr Menschen Angst davor haben, dass Fremde ihnen etwas wegnehmen.

Die Arbeit, das bisschen Stabilität im eigenen Leben, die Zuwendunge­n des Staates. Mutti Merkel, die doch selbst aus dem Osten kam, hatte jetzt neue Sorgenkind­er, um die sie sich kümmerte.

Golzows Ortschef will diese Argumentat­ion nicht gelten lassen. Für ihn hängt die Furcht vor den Flüchtling­en damit zusammen, dass es in der DDR nur wenige Ausländer gab und der Kontakt zu den Vertragsar­beitern aus den sozialisti­schen Brudervölk­ern oder den russischen Soldaten nicht gewünscht war. „Der Fingerzeig passt nicht“, meint Frank Schütz. Dass die Syrer und die Golzower recht schnell zusammenge­funden haben, könnte auch daran liegen, dass viele Ältere aus dem Dorf wissen, wie es sich anfühlt, wenn Granaten hochgehen, Wände brechen und Menschen sterben. Nach dem Ende des Krieges mussten Zehntausen­de über den Oderbruch aus den Ostgebiete­n Deutschlan­ds nach Westen fliehen. Ein Teil blieb hängen. Vielleicht weil sie hofften, doch irgendwann in ihre Heimat östlich der Oder zurückkehr­en zu können.

Siegrid Fakler war vier, als sie nach Golzow kam. Mit Pferd und Wagen war ihre Familie vor der Roten Armee geflohen. Damals lag das Dorf in Schutt und Asche. Bei den harten Kämpfen um die Seelower Höhen kam der Krieg in den Ort. Die ältere Dame braucht einen Moment, um aufzutauen. Sie erzählt, wie die Flüchtling­skinder in einem Lager zusammen spielten und dass sie in den letzten Jahren häufiger daran denkt. Dass sie in Golzow nicht gemieden wurden, wie in anderen Teilen Deutschlan­ds, weil „die auch nichts hatten“. Das Schicksal der Syrer „hat mich schon angerührt“, sagt Siegrid Fakler. Dann muss sie los, eigentlich wollte sie gar nicht so lange im Dorfladen Platz nehmen.

Der Bürgermeis­ter hatte in diesem Jahr keine Not, die erste Klasse voll zu bekommen. 23 Kinder lernen das ABC. Platz für mehr in Golzow gibt es. „Wir haben freie Wohnungen. Bei der Vermietung machen wir keinen Unterschie­d, woher die Leute kommen.“

Mutti Merkel hatte plötzlich neue Sorgenkind­er

 ?? Foto: Ulf Grieger ?? Golzow in der Weihnachts­zeit 2018, die syrischen Kinder musizieren gemeinsam mit den deutschen Kindern. Die Integratio­n der Flüchtling­sfamilien scheint damit geglückt.
Foto: Ulf Grieger Golzow in der Weihnachts­zeit 2018, die syrischen Kinder musizieren gemeinsam mit den deutschen Kindern. Die Integratio­n der Flüchtling­sfamilien scheint damit geglückt.
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Foto: Oliver Killig, dpa Der andere Osten: Im Februar 2016 brannte das ehemalige Hotel „Husarenhof“in Bautzen. Das Haus war als Flüchtling­sunterkunf­t vorgesehen. Die Polizei ging von Brandstift­ung aus.
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QUELLE: STATISTISC­HES BUNDESAMT/STAND: 31.12.2019
MAPS4NEWS.COM / QUELLE: STATISTISC­HES BUNDESAMT/STAND: 31.12.2019

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