Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (59)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
Er schüttelte sich vor Lachen, hob mich mit einer Hand hoch, bis ich in seinen Auge die roten Äderchen sah, und dann stieß er mit seinem großen Kopf so heftig gegen meine Stirn, dass ich mehrere Meter rückwärts flog und für einen Augenblick wie benommen war. Als ich schmerzhaft auf dem Hintern landete, kam ich wieder zu mir. Ich taumelte benommen nach Hause. Und er lachte mir laut hinterher.
Zu Hause konnte ich die Beule auf meiner Stirn nicht verbergen. Bis dahin hatte ich meine Angst vor Butros stets verheimlicht und gelogen, wenn man mich fragte, woher ich meine Schürfwunden hatte. An dem Tag aber kam mein Cousin Girgi aus der Stadt zu Besuch. Er war bereits sechzehn und arbeitete bei einem Automechaniker. Er liebte meine Mutter sehr. Girgi sah meine Beule und fragte mich unter vier Augen: ,Was ist los? Deiner Mutter hast du erzählt, du bist gestolpert und mit der Stirn gegen einen Baumstamm geprallt. Mir erzählst du jetzt die
Wahrheit.‘
Ich weinte vor Scham, aber ich erzählte ihm alles, auch vom ranzigen Öl der Tante. Er küsste mich, gab mir zehn Piaster und sagte, ich solle zum Krämer gehen und Kürbiskerne kaufen und danach Butros rufen, er solle mal rauskommen. ,Dann lehnst du dich an unsere Mauer und knackst genüsslich deine Nüsse. Alles andere überlässt du mir.‘ Ich rannte zum Krämer. Auf dem Rückweg stand Butros zwei Häuser weiter an die Mauer seines Elternhauses gelehnt. ,Na, bringst du mir Kürbiskerne? Nur zu, ich habe Lust darauf.‘
Ich warf einen Blick auf unsere halb geöffnete Haustür und sah meinen Cousin mit einem Stock in der Hand in ihrem Schatten stehen. Butros aber konnte ihn nicht sehen. Girgi bedeutete mir, das Monster herzurufen.
,Wenn du eine Tracht Prügel haben willst, dann komm doch her. Und von den Kernen bekommst du nur die Schalen‘, erwiderte ich heiser vor Aufregung. Noch heute weiß ich nicht, wie mein zittriger Mund diese Worte hervorgebracht hat.
Butros kam tatsächlich. Als er unser Haus erreichte, ging die Tür vollends auf, und mein Cousin Girgi, so groß wie Butros, aber athletischer gebaut, sprang ihn an wie ein Panther. Erbarmungslos schlug er auf ihn ein. Kurz darauf lag Butros auf dem Boden und jammerte wie ein Baby. Girgi hielt inne. ,Hör mir jetzt gut zu: Du wirst doppelt so viele Prügel bekommen wie heute, wenn dein Schatten Zakarias Füße auch nur berührt. Verstanden? Wenn dein Schatten seine Füße auch nur berührt.‘
,Bitte nicht mehr schlagen‘, winselte Butros, dass ich beinahe Mitleid mit ihm bekam. ,Ja. Ich habe verstanden.‘
Das war’s. Wann immer wir uns sahen, flüchtete er aus Angst, sein Schatten könnte mich berühren. Vor allem in den Abendstunden, wenn die Schatten länger wurden. Ich aber hatte jedweden Glauben an irgendwelche Öle, die Tränen und das Blut der heiligen Bilder verloren. Jahre später jedoch, ich war bereits in der Polizeiakademie, floss das Öl wieder aus heiligen Bildern in Malula, und heute tauchen in Damaskus und überall Gesprächspartner der heiligen Maria auf und heilen Kranke, mal mit, mal ohne Öl. Wie der Bergheilige in Derkas, zu dem unser Kardinal gefahren ist.“
„Moment“, meldete sich jetzt Mancini zu Wort, und in seiner Stimme lag Widerspruch, „der Fall der Wunderheilerin Dumia und der des Bergheiligen sind, jedenfalls nach den Unterlagen, eine Stufe seriöser einzuordnen, oder“, er zögerte, „wie sagt man auf Arabisch? Ach ja… raffinierter. Hier in Damaskus stellt sich die katholische Kirche samt ihrem Bischof und dem merkwürdigen Pfarrer vor die Wunderheiler. Nur Patriarch Bessra hält sich bedeckt. Bischof Tabbich und Pfarrer Gabriel dagegen betreiben die Sache mit großem Einsatz. Mit CDS, DVDS und Büchern machen sie Werbung.
Es gibt sogar ein Gerücht, dass Verteidigungsminister Ballas zusammen mit führenden Offizieren des Geheimdienstes und der Armee bei der Frau war, um sich segnen und salben zu lassen. Die Sache mit dem Bergheiligen ist dagegen etwas komplizierter. Der Mann ist Muslim …“In diesem Moment klingelte Barudis Handy. Er warf einen Blick auf das Display. „Ja, Ali, guten Abend, was gibt’s?“, sagte er dann. Eine Weile hörte er schweigend zu. „Ach Gott, nein“, sagte er schließlich. „Bist du sicher?… Danke, nein, bleib zu Hause, das hat Zeit bis morgen. Wir können zu dieser Stunde ohnehin nichts machen… Ich weiß, ich weiß, ich danke dir, aber es ist nicht nötig… Gut, wir sehen uns morgen. Salam.“
Barudi beendete das Gespräch mit einem Knopfdruck, legte sein Handy auf den Tisch. „Es ist eine Katastrophe“, sagte er.
„Was ist passiert?“, fragten seine Kollegen wie im Chor.
„Im Fernsehen wurde gerade ein Bekennerschreiben verlesen. Eine islamistische Gruppe, die sich ,Kampf gegen die Kreuzzügler‘ nennt, hat sich zum Mord an dem Kardinal bekannt. Das ist echt scheiße. Wir lassen keine Silbe über den Fall verlauten, nicht einmal unseren Kollegen gegenüber, sprechen statt vom toten Kardinal nur von ›Maher‹, um die Sache diskret zu behandeln, und jetzt das. Ich war dabei, als der Innenminister alle Verantwortlichen der Zeitungen, Radiosender und Fernsehanstalten, auch der Privaten, anwies, kein Wort in dieser Sache zu veröffentlichen, bis wir, Mancini und ich, mit unserer Untersuchung fertig sind.“
„Das bedeutet, dass der Geheimdienst dahintersteckt. Niemand sonst würde es wagen, den Innenminister zu übergehen. Armer Barudi“, sagte Schukri leise und strich Barudi liebevoll über die Schulter.
„Als ob wir nicht schon genügend
Probleme hätten, wirft man uns nun dieses Bekennerschreiben wie eine Bombe zwischen die Beine“, sagte Barudi und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
„Lasst uns aufbrechen!“, schlug Mancini vor.
„Nein, ihr bleibt sitzen. Das Essen ist erst abgeschlossen, wenn man den Kaffee getrunken hat. Wir können uns dann noch gemeinsam die Nachrichten um dreiundzwanzig Uhr anhören“, rief Schukri und eilte in die Küche. Barudis Protest bekam er nicht mehr mit.
Es war kurz vor Mitternacht, als Barudi und Mancini das Haus verließen. Das Taxi wartete schon. Barudi nahm neben seinem Kollegen auf dem Rücksitz Platz und nannte dem Fahrer Mancinis Adresse in der Midan-straße.
„Hast du schon einen Termin bei der Wunderheilerin?“
„Ja, morgen um fünfzehn Uhr. Zuvor muss ich zu Pfarrer Gabriel gehen. Ohne dessen Zustimmung redet sie mit keinem Journalisten, hat mir ihr Mann am Telefon gesagt. Ich hoffe, das Gespräch wird uns weiterbringen.“
„Wenn die Frau Ihnen nicht helfen kann“, mischte sich der Taxifahrer ein, „ich kenne da einen Scheich, der hat drei Teufel aus einer Cousine von mir herausgeholt.