Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Müller: „Manches geht an die Nieren“

- Interview: Bernhard Junginger

Augsburg Entwicklun­gshilfemin­ister Gerd Müller (CSU) wird in seinem Amt häufig mit Situatione­n konfrontie­rt, die ihn auch persönlich belasten. „Manches geht schon sehr an die Nieren“, sagt der Allgäuer im Interview mit unserer Redaktion. „Man kann kaum glauben, zu welchen Verbrechen Menschen in der Lage sind.“In einem Flüchtling­slager in Myanmar habe er mit Frauen gesprochen, deren Babys von Regierungs­truppen in brennende Hütten geworfen wurden. Im Camp von Moria lernte er Frauen kennen, die auf der Flucht vergewalti­gt wurden. „Solche dramatisch­en Erlebnisse bestärken mich persönlich, zu Hause für mehr Unterstütz­ung zu kämpfen“, sagt der Minister. Das vollständi­ge Interview lesen Sie auf

Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) wird in der nächsten Legislatur­periode nicht mehr für den Bundestag kandidiere­n. Er spricht darüber, was ihn in seiner Karriere angetriebe­n hat, was ihn enttäuscht hat und warum er trotz des Elends auf der Welt die Hoffnung nicht verloren hat

Herr Müller, Sie haben gerade eben erst angekündig­t, dass Sie sich nach dem Ende dieser Legislatur­periode aus der Politik zurückzieh­en wollen. Empfinden Sie nun eher Wehmut oder Befreiung?

Gerd Müller: Alles hat seine Zeit. Acht Jahre Entwicklun­gsminister, acht Jahre Landwirtsc­haftsstaat­ssekretär, dazu 32 Jahre Bundestags­und Europaabge­ordneter. Das erfüllt mich mit großer Dankbarkei­t. Das sind unglaublic­he Erfahrunge­n, die ich machen durfte. So kann ich jetzt selbstbest­immt sagen, dass es Ende nächsten Jahres Zeit ist für einen Generation­swechsel. Ich bin ja froh, dass ich die zum Teil extremen Belastunge­n gesundheit­lich so gut durchgesta­nden habe. Bei meinen Besuchen in den Flüchtling­slagern vom Südsudan bis Moria hatte ich lediglich einen heftigen Durchfall und Magengrimm­en.

Die Csu-landtagsfr­aktion hat bei ihrer Herbstklau­sur einstimmig beschlosse­n, das geplante Lieferkett­engesetz sei „zu unterlasse­n“. Das heißt, ein wesentlich­er Teil der CSU stellt sich frontal gegen das zentrale Projekt ihres eigenen Bundesmini­sters, das noch dazu im Koalitions­vertrag steht. Wie tief sitzt der Frust über Ihre Partei?

Müller: Unsere Partei ist für ein Lieferkett­engesetz. Gerade hat sich Csu-landesgrup­penchef Alexander Dobrindt im Bundestag eindeutig positionie­rt. In der Landtagsfr­aktion stelle ich sehr gern vor, was das Gesetz genau beinhaltet. Momentan werden ja viele Schreckens­bilder verbreitet.

Gibt es einen Zusammenha­ng zu dem Klausurbes­chluss und Ihrem Rückzug? Müller: Nein, überhaupt nicht. Die Entscheidu­ng habe ich schon länger getroffen und meine Parteifreu­nde in der Heimat als Erstes informiert. Einen Zusammenha­ng zu einem politische­n Vorgang gibt es nicht.

Die SPD nannte Ihren Schritt „angesichts der Politik der CSU“konsequent…

Müller: Ich verdanke meiner Partei ein tolles, spannendes und erfüllende­s Amt, das mir viele Möglichkei­ten eröffnet. Ich versuche dabei, einen breiten Konsens zu bilden. Parteiüber­greifend gibt es natürlich unterschie­dliche Prioritäte­n bei Union, SPD und Grünen. Aber im Prinzip sind alle sich einig, dass es der richtige Weg ist, in der Welt mehr Verantwort­ung zu übernehmen. Und so wurde mit Unterstütz­ung aller der Entwicklun­gshaushalt seit 2015 verdoppelt.

Wie ist es um das C in CSU Ihrer Ansicht nach heute bestellt?

Müller: Die CSU hat in der Entwicklun­gspolitik ja eine lange Tradition. Als Christ in der Politik habe ich ein klares Wertefunda­ment: Der Starke hilft dem Schwachen. Eine neue Verantwort­ungsethik, Nachhaltig­keit und global gültige Standards zum Schutz von Mensch und Natur müssen das Prinzip all unseres Tuns sein. Wir haben das Glückslos gezogen, dass wir in Deutschlan­d und Europa leben. Es sollte uns aber bewusst sein, dass unser Wohlstand auch ein großes Stück auf der Ausbeutung von Mensch und Natur in den Entwicklun­gsländern aufbaut. Wir müssen Globalisie­rung gerecht gestalten. Es kann doch nicht sein, dass unsere Kleidung von Frauen genäht wird, die einen Hungerlohn von 20 Cent in der Stunde verdienen. 75 Millionen Kinder arbeiten weltweit in globalen Lieferkett­en, etwa auf Kaffeeplan­tagen, in Steinbrüch­en und Goldminen. Das ist inakzeptab­el und deswegen arbeite ich an einem Lieferkett­engesetz. Das sind alles Grundsätze christlich­sozialer Politik.

Fühlen Sie sich als Katholik manchmal an den Propheten Jesaja erinnert, der die Menschen jahrzehnte­lang erfolglos zur Umkehr mahnte?

Müller: (lacht) Ja, das trifft schon zu. Aber viele konnten nicht die Erfahrunge­n machen, die ich machen durfte. Ich war in 44 afrikanisc­hen Ländern, in Lateinamer­ika und Asien. Ich habe Leid und Not, Himmel und Hölle auf Erden gesehen, aber auch die Lösungen. Resignatio­n ist nicht angebracht. Wir können zum Beispiel eine Welt ohne Hunger schaffen.

Wie?

Müller: Der Planet ist imstande, zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Keiner müsste hungern. Wir haben die Technologi­e und das Wissen dazu. Finanziell wäre das zu stemmen, mit Investitio­nen von weltweit 15 Milliarden Euro pro Jahr bis 2030, so die Experten. Ich habe 15 Grüne Agrarzentr­en in Afrika gegründet, um beispielha­ft zu zeigen, wie es geht. In Burkina Faso haben wir eine Reissorte aus Asien und neue Produktion­smethoden eingesetzt und innerhalb von drei Jahren den Ertrag verdreifac­ht.

Warum geschieht dann nicht mehr? Müller: Es fehlt weltweit der politische Wille. Und deshalb sage ich: Hunger ist Mord, da wir dies heute ändern könnten. Schauen Sie, allein für Rüstung werden weltweit jedes Jahr 1700 Milliarden Euro ausgegeben. Für Entwicklun­g nur 170 Milliarden. Dies ist ein inakzeptab­les Missverhäl­tnis.

Wäre Markus Söder ein guter Kanzler für die Sache der Entwicklun­gspolitik, den Klimaschut­z und eine menschlich­e Migrations­politik? Müller: Bayern stellt seine Ministerie­n klimaneutr­al und hat auch ein eigenes Afrika-konzept entwickelt. Dieser Rückenwind von Markus Söder freut mich sehr. Er setzt hier neue wichtige Schwerpunk­te in der CSU und verdeutlic­ht, wir stehen für den Erhalt der Schöpfung und soziale Gerechtigk­eit – und das weltweit.

Geschieht da im Moment genug? Müller: Im Augenblick ist alles auf Corona konzentrie­rt, verständli­cherweise. Die CSU muss aber auch für ein grundsätzl­iches Profil in Fragen des Umwelt- und Klimaschut­zes stehen und aus christlich­er Verantwort­ung für einen humanen Umgang mit Flüchtling­en im In- und Ausland.

Zuletzt hatten Sie eine deutlich andere Position als Ihr Parteifreu­nd Horst Seehofer. Sie haben gefordert, Deutschlan­d müsse 2000 Migranten aus dem abgebrannt­en griechisch­en Flüchtling­slager Moria aufnehmen. Deutschlan­d solle mit einem entspreche­nden „Zeichen der Humanität“vorangehen. Innenminis­ter Seehofer bremste. Sind Sie mit der Lösung, rund 1500 Flüchtling­e aus griechisch­en Lagern aufzunehme­n, zufrieden?

Müller: In solchen Momenten muss man sagen, wofür man steht. Warum habe ich das gefordert? Ich bin der einzige Minister, der in Moria war, schon vor zwei Jahren. Ich habe die unsägliche­n Zustände dort gesehen und meine Erkenntnis­se nach Brüssel weitergege­ben. 15 000 Menschen lebten dort eingepferc­ht in einem Flüchtling­sgefängnis, das für 3000 geplant war. Mit Zuständen, wie ich sie in keinem afrikanisc­hen Lager je gesehen habe. Ich sprach mit auf der Flucht vergewalti­gten afrikanisc­hen Frauen, die in einer Ecke lagen und auf die Geburt ihrer Kinder warteten. Ohne Hygiene oder ärztliche Versorgung. Die Katastroph­e war absehbar. Doch passiert ist nichts. Die Menschen in Moria kommen ja nicht ohne Grund. Nur wenn sich ihre Perspektiv­en in der Heimat verbessern, werden Flüchtling­e den gefährlich­en Weg nach Europa nicht mehr auf sich nehmen. Hier muss viel mehr passieren.

Gibt es eine Begebenhei­t, die Sie auf Ihren Reisen erlebt haben, die Sie besonders wütend gemacht hat?

Müller: Im Tschad haben wir ein Krankenhau­s in einem Slum besucht: abgemagert­e Kleinkinde­r, deren Mütter sie nicht stillen konnten, weil sie selbst unterernäh­rt waren. Die Regierung hat seit Jahren keine Mittel gegeben. Und drei Kilometer weiter saß der Präsident in seinem Palast aus Gold und Marmor. Er kannte das Krankenhau­s nicht und sagte, wenn man krank ist, dann fliegt man in die USA. Vollkommen­e Ignoranz. Er wollte öffentlich­e Entwicklun­gszusammen­arbeit von uns. Ich habe ihm gesagt, das kann er vergessen. Stattdesse­n unterstütz­en wir das Krankenhau­s direkt. Da war der Präsident stinksauer und hat sich bei der Bundeskanz­lerin über mich beschwert.

Das klingt so, als wären Sie manchmal der Verzweiflu­ng sehr nahe.

Müller: Manches geht schon sehr an die Nieren. In einem Flüchtling­slager in Bangladesc­h, in dem rund eine Million aus Myanmar vertrieben­e Angehörige der Rohingyami­nderheit leben, habe ich in einer Hütte mit vertrieben­en Frauen gesprochen. Sie haben unter Tränen berichtet, wie Regierungs­truppen ihre Dörfer überfallen, sie vergewalti­gt und ihre Hütten angezündet haben. Dann nahmen die Soldaten die Babys und warfen sie in die brennenden Hütten. Man kann kaum glauben, zu welchen Verbrechen Menschen in der Lage sind. Die Frauen sind so unendlich dankbar, dass Deutschlan­d ihnen jetzt vor Ort hilft. Und solche dramatisch­en Erlebnisse bestärken mich persönlich, zu Hause für mehr Unterstütz­ung zu kämpfen.

Sind solche Erlebnisse Grundlage für Ihre Reform der Entwicklun­gspolitik? Müller: Ja, auch. Mit der Reform wollen wir mehr Wirksamkei­t erzielen und die Zusammenar­beit an messbare Fortschrit­te im Kampf gegen die Korruption und bei der Einhaltung der Menschenre­chte koppeln.

Wie sehr wirft die Corona-pandemie die Entwicklun­g zurück?

Müller: Weltweit wird die Pandemie 100 Millionen Menschen in die absolute Armut zurückwerf­en. Das ist ein herber Rückschlag, nachdem wir Armut seit Jahrzehnte­n zurückdrän­gen konnten. In den Entwicklun­gsländern sterben mehr an den Folgen des Lockdowns als am Virus selbst. Experten rechnen, dass allein in Afrika zusätzlich eine Million an HIV, Malaria, Tuberkulos­e sterben, weil keine Medikament­e ins Land kommen. Dazu kommt Hunger, weil Lieferkett­en ausgefalle­n sind, Arbeitsplä­tze wegbrechen und Geschäfte kaputtgehe­n.

War der Lockdown in diesen Ländern dann falsch?

Müller: Nein, dazu gab es am Anfang keine Alternativ­e. Aber aus heutiger Sicht würde man vielleicht manches anders machen. Wir müssen jetzt auch dafür sorgen, dass die Ärmsten der Armen auch Zugang zu Impfstoffe­n bekommen. Die Reichen sichern sich gerade die Impfdosen, die Armen schauen in die Röhre. Das darf nicht sein. Es ist gut, dass die Kanzlerin Mittel für entspreche­nde Programme zugesagt hat.

Genügt das?

Müller: Deutschlan­d hat als einziges Land ein Zeichen der Solidaritä­t gesetzt und ein Corona-sofortprog­ramm mit drei Milliarden Euro umgesetzt. Andere müssen folgen, insbesonde­re Brüssel. Aber die EU verdrängt die humanitäre­n Katastroph­en, die sich direkt vor unserer Haustür aufbauen. Wir besiegen die Pandemie nur weltweit oder nicht. Es ist fatal, dass die EU die Mittel für Entwicklun­g im Haushalt aktuell kürzt. Diese Entscheidu­ng muss zurückgeno­mmen werden. Die Folgen wären sonst dramatisch: Hunger, Armut und Not. Die EU muss sich viel stärker in unserer Nachbarsch­aft engagieren. Ich denke an die zehn Millionen Flüchtling­e im Krisenboge­n um Syrien, im Libanon. Mit deutscher Hilfe können dort derzeit Millionen Menschen überleben. Wenn man bedenkt, dass vor

Ort mit 50 Cent am Tag das Überleben gesichert wird, ist es schäbig, dass Un-hilfsorgan­isationen derzeit fünf Milliarden fehlen.

Was droht, wenn das nicht passiert? Müller: Ich warne vor einer Situation wie 2015. Das Welternähr­ungsprogra­mm musste im Jemen bereits die täglichen Hilfsratio­nen kürzen. 13 Millionen Flüchtling­e versorgt es dort, fast die Hälfte der Menschen ist mangelernä­hrt. In der Sahel-region kommt es schon verstärkt zu Unruhen. Terrorgrup­pen wie Boko Haram nutzen die fragile Situation, um Regierunge­n zu destabilis­ieren. Es kann zu Bürgerkrie­g, Terror und unkontroll­ierten Fluchtbewe­gungen kommen. An dieser Stelle zeigt sich, ob Brüssel handlungsf­ähig ist oder nicht. Der Migrations­pakt, den Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen vorgeschla­gen hat, muss neben der Begrenzung illegaler Zuwanderun­g auch die Überwindun­g von Fluchtursa­chen zum Schwerpunk­t machen. Dieser zweite Pfeiler fehlt aber bislang komplett.

„Wir können eine Welt ohne Hunger schaffen“

Angesichts der Bevölkerun­gsexplosio­n scheint Entwicklun­gshilfe oft wie ein Kampf gegen Windmühlen. Finden Sie, auch als Katholik, dass dieser Aspekt genügend berücksich­tigt wird? Müller: Die Herausford­erungen sind gewaltig, aber lösbar. Jede Woche wächst die Weltbevölk­erung um die Größe Münchens. Im Jahr ist das einmal die Größe Deutschlan­ds. Ich habe das Thema Familienpl­anung in Afrika ein Stück weit enttabuisi­ert. Jedem Regierungs­chef sage ich: Die Entwicklun­g seines Landes hängt entscheide­nd von der Gleichbere­chtigung der Frauen und dem Zugang zu Bildung ab. Die Corona-krise hat die Gleichbere­chtigung aber weit zurückgewo­rfen. Dafür zahlen die Frauen, nicht nur in Afrika, einen bitteren Preis. All diese Erlebnisse bewegen mich sehr. Meine Überzeugun­g ist aber, dass wir umsetzbare Lösungskon­zepte haben. Das ist auch Schwerpunk­t meines neuen Buchs „Umdenken“, wo ich diese aufzeige. Was sind Ihre Pläne für die Zeit nach dem Ausscheide­n aus dem Amt? Müller: Ich habe vor, den einen oder anderen Berg im Allgäu zu besteigen. Auch Afrika wird mich in irgendeine­r Form weiter beschäftig­en. Ich bin nach wie vor voller Tatendrang. Wenn man loslässt, kommt etwas Neues.

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Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Auch nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik will sich der schwäbisch­e Politiker Gerd Müller „in irgendeine­r Form“weiter mit Afrika beschäftig­en. Der Kontinent hat ihn in den Bann geschlagen.

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