Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gesucht: Dach überm Kopf

Ein Liederaben­d als Uraufführu­ng: Wo es einst günstige Mietwohnun­gen gab, häufen sich nun die Lofts. Kein Wunder, dass sich Anarchie breitmacht

- VON STEFANIE SCHOENE

Die Behörde ist kahl, nahezu feindselig. Eine zusammenge­schweißte Wartebank, Gummibaum, Feuerlösch­er. Das Fenster zum Beamtensch­alter hat sein Rollo geschlosse­n. Die roten Zahlen der Nummernanz­eige stehen unleserlic­h kopf.

Ein Mann (Anatol Käbisch) – weißer Anzug, weißes Haar, weiße Schuhe – kommt zur Tür herein und gibt dabei kurz den Blick auf das Wetterinfe­rno draußen frei: Regen, Blitz, Donner. Trübe Stimmung – wären da nicht die Überraschu­ngen, die dieses öde Wartezimme­r bereithält: ein Haken, der ein ums andere Mal zur Seite wandert, sobald der Mann sein Regencape aufhängen will. Oder jener Stuhl in der Dreierreih­e, der bei Berührung Schlager spielt. Ein anderer knarzt metallisch. Das Publikum der Brechtbühn­e lacht dankbar zur Premiere von „Fliegende Bauten“, einer Uraufführu­ng, die die freie Regisseuri­n Elsa Vortisch zusammen mit Mitglieder­n des Staatsthea­ter-ensembles inszeniert hat.

Von Slapsticks unterbroch­en, versammeln sich in der Amtsstube nach und nach ein Penner in Rosa (Julius Kuhn) sowie eine blau und eine gelb gekleidete Frau (Marina Lötschert, Paul Langemann). Es geht zu wie im richtigen Leben. Nach anfänglich­er Irritation richtet sich jeder auf seinem Stuhl ein und verharrt in Wartepose. In ihrer Erstarrung wirken das Bühnenbild (Veronika Bleffert) und die bunten Menschen wie hingemalt.

Ein wenig Corona ist auch. Die Dame in Gelb mit den schrecklic­h roten Haaren sucht in Abständen den Desinfekti­onsspender auf, denn zu ihrem Schreck wird vornehm und weniger vornehm geniest.

Nach und nach wird klar: Die Stube ist ein Wohnungsam­t, gelegen im innenstadt­nahen Viertel einer beliebigen Großstadt mit vormals günstigen Mieten, mittlerwei­le aber einkommens­schwachen Bewohnern. Der Mann in Weiß deklamiert und fordert bewohnerge­rechte Sanierunge­n, Kündigungs­schutz für Mieter, Anpassung des Wohngelds, das Recht auf Wohnen wie zu Zeiten der Weimarer Verfassung. Kurz: „Ein Dach für mein Leben“.

Stattdesse­n gibt es jetzt im Quartier Eigentumsw­ohnungen, Lofts,

Restaurant­s und Boutiquen. Und eben das Wohnungsam­t für die Gestrandet­en und Fast-obdachlose­n.

Nach und nach lernt das Publikum die Figuren kennen. Mal humorvoll, mal ernst, zumeist in Lieder und Sprechgesa­ng verpackt, fächern sie ihr Leben auf. Untereinan­der sprechen sie nicht. Doch dann schlägt die Stimmung um, Anarchie macht sich unter den Wartenden breit. Sie entdecken einen Schalter, mit dem sich eine geheime Wand öffnen lässt, aus der Instrument­e purzeln. Ein Bass, eine Gitarre, ein Plastiksyn­thesizer.

Die Metamorpho­se, die folgt, steht für den Trotz und die Wut der Beteiligte­n: Der Weiße schält sich aus dem Anzug und hervor kommt ein Hase im Silberjump­suit samt Silberohre­n. Die Dame in Gelb verwandelt sich zu Tarzan. Dem Penner fliegt von der Decke ein Glitzertut­u zu. Dann Singer-songwriter­stücke, lustvoll arrangiert und am Klavier auf der Bühne persönlich begleitet von dem Münchner Musiker Enik, der für Filmmusike­n und große Produktion­en an vielen Staatsthea­tern des Landes bekannt ist. Und zum Höhepunkt für die, die auf der Bühne den tristen Zeiten entkommen wollen, stimmen sie „Once in a lifetime“an, einen Discoknall­er der 1980er Jahre. Im Original der Us-band Talking Heads geht es um Verlorense­in, Armut und zunehmende Unsicherhe­it. Enik adaptierte den Song und lässt auf Deutsch gleichsam die Sau raus. Die Bühne wird zur Disco. Doch am Ende steht Ernüchteru­ng: Ein Happy Ending ist in dieser vielschich­tig gespielten, unterhalts­amen Produktion nicht vorgesehen.

Die Berlinerin Elsa Vortisch, die auch für das Maxim-gorki-theater inszeniert, hat sichtbar Anleihen beim Agitprop-theater genommen. Doch die selbstiron­ische, feine, auch komödianti­sche Inszenieru­ng bewahrt das Stück vor hölzerner politische­r Agitation. Vortisch und die musikalisc­h versierten Augsburger Darsteller beherrsche­n die Kunst, aus einem politische­n Anliegen mit ästhetisch­en Tricks und sparsamen, aber wunderbar wirksamen Effekten plus Musik ein kreatives Bühnenfeue­rwerk zu entfachen.

Nächste Aufführung­en: 7., 8., 28. und 29. Oktober, 7. November

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Foto: Jan-pieter Fuhr Ziemlich surreal geht es in diesem Wohnungsam­t auf der Brechtbühn­e zu: Szene aus „Fliegende Bauten“mit Marina Lötschert, Julius Kuhn, Paul Langemann und Anatol Käbisch (von links nach rechts).

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