Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Gesucht: Dach überm Kopf
Ein Liederabend als Uraufführung: Wo es einst günstige Mietwohnungen gab, häufen sich nun die Lofts. Kein Wunder, dass sich Anarchie breitmacht
Die Behörde ist kahl, nahezu feindselig. Eine zusammengeschweißte Wartebank, Gummibaum, Feuerlöscher. Das Fenster zum Beamtenschalter hat sein Rollo geschlossen. Die roten Zahlen der Nummernanzeige stehen unleserlich kopf.
Ein Mann (Anatol Käbisch) – weißer Anzug, weißes Haar, weiße Schuhe – kommt zur Tür herein und gibt dabei kurz den Blick auf das Wetterinferno draußen frei: Regen, Blitz, Donner. Trübe Stimmung – wären da nicht die Überraschungen, die dieses öde Wartezimmer bereithält: ein Haken, der ein ums andere Mal zur Seite wandert, sobald der Mann sein Regencape aufhängen will. Oder jener Stuhl in der Dreierreihe, der bei Berührung Schlager spielt. Ein anderer knarzt metallisch. Das Publikum der Brechtbühne lacht dankbar zur Premiere von „Fliegende Bauten“, einer Uraufführung, die die freie Regisseurin Elsa Vortisch zusammen mit Mitgliedern des Staatstheater-ensembles inszeniert hat.
Von Slapsticks unterbrochen, versammeln sich in der Amtsstube nach und nach ein Penner in Rosa (Julius Kuhn) sowie eine blau und eine gelb gekleidete Frau (Marina Lötschert, Paul Langemann). Es geht zu wie im richtigen Leben. Nach anfänglicher Irritation richtet sich jeder auf seinem Stuhl ein und verharrt in Wartepose. In ihrer Erstarrung wirken das Bühnenbild (Veronika Bleffert) und die bunten Menschen wie hingemalt.
Ein wenig Corona ist auch. Die Dame in Gelb mit den schrecklich roten Haaren sucht in Abständen den Desinfektionsspender auf, denn zu ihrem Schreck wird vornehm und weniger vornehm geniest.
Nach und nach wird klar: Die Stube ist ein Wohnungsamt, gelegen im innenstadtnahen Viertel einer beliebigen Großstadt mit vormals günstigen Mieten, mittlerweile aber einkommensschwachen Bewohnern. Der Mann in Weiß deklamiert und fordert bewohnergerechte Sanierungen, Kündigungsschutz für Mieter, Anpassung des Wohngelds, das Recht auf Wohnen wie zu Zeiten der Weimarer Verfassung. Kurz: „Ein Dach für mein Leben“.
Stattdessen gibt es jetzt im Quartier Eigentumswohnungen, Lofts,
Restaurants und Boutiquen. Und eben das Wohnungsamt für die Gestrandeten und Fast-obdachlosen.
Nach und nach lernt das Publikum die Figuren kennen. Mal humorvoll, mal ernst, zumeist in Lieder und Sprechgesang verpackt, fächern sie ihr Leben auf. Untereinander sprechen sie nicht. Doch dann schlägt die Stimmung um, Anarchie macht sich unter den Wartenden breit. Sie entdecken einen Schalter, mit dem sich eine geheime Wand öffnen lässt, aus der Instrumente purzeln. Ein Bass, eine Gitarre, ein Plastiksynthesizer.
Die Metamorphose, die folgt, steht für den Trotz und die Wut der Beteiligten: Der Weiße schält sich aus dem Anzug und hervor kommt ein Hase im Silberjumpsuit samt Silberohren. Die Dame in Gelb verwandelt sich zu Tarzan. Dem Penner fliegt von der Decke ein Glitzertutu zu. Dann Singer-songwriterstücke, lustvoll arrangiert und am Klavier auf der Bühne persönlich begleitet von dem Münchner Musiker Enik, der für Filmmusiken und große Produktionen an vielen Staatstheatern des Landes bekannt ist. Und zum Höhepunkt für die, die auf der Bühne den tristen Zeiten entkommen wollen, stimmen sie „Once in a lifetime“an, einen Discoknaller der 1980er Jahre. Im Original der Us-band Talking Heads geht es um Verlorensein, Armut und zunehmende Unsicherheit. Enik adaptierte den Song und lässt auf Deutsch gleichsam die Sau raus. Die Bühne wird zur Disco. Doch am Ende steht Ernüchterung: Ein Happy Ending ist in dieser vielschichtig gespielten, unterhaltsamen Produktion nicht vorgesehen.
Die Berlinerin Elsa Vortisch, die auch für das Maxim-gorki-theater inszeniert, hat sichtbar Anleihen beim Agitprop-theater genommen. Doch die selbstironische, feine, auch komödiantische Inszenierung bewahrt das Stück vor hölzerner politischer Agitation. Vortisch und die musikalisch versierten Augsburger Darsteller beherrschen die Kunst, aus einem politischen Anliegen mit ästhetischen Tricks und sparsamen, aber wunderbar wirksamen Effekten plus Musik ein kreatives Bühnenfeuerwerk zu entfachen.
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Nächste Aufführungen: 7., 8., 28. und 29. Oktober, 7. November