Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Weltgeschichte und Kurzgeschichten, alles in Farbe
In seinen „Zwischenwelten“präsentiert Harald Reiner Gratz in Leitershofen 30 Gemälde aus drei Jahrzehnten deutscher Einheit
Harald Reiner Gratz ist das, was man einen Vollblutmaler nennt – zu diesem Schluss kommt Kai Uwe Schierz nach weitausgeholtem Exkurs über den theoretischen und geschichtlichen Überbau, der dessen Werk transportiert. Der Kulturwissenschaftsprofessor, Direktor der Kunstmuseen Erfurt, begleitete mit seiner Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung im Kunstraum am Pfarrhof Leitershofen die Besucher in Gratz’ „Zwischenwelten“.
Das Thema „30 Bilder aus drei Jahrzehnten deutsche Einheit“hat mit Teilung, Krieg und Politik, mit menschlichen Widersprüchen, mit Leidenschaften zu tun, bei Schierz auch mit der Disziplin der Historienmalerei. Doch Gratz, 1962 bei Schmalkalden geboren, hält keine pathetisch-glorifizierende Rückschau.
Sein Bilder-kosmos verläuft nicht in chronologischer Sorgsamkeit. Vielmehr verschlingen sich die großen historischen Themen und die privaten Seelen der Menschen ineinander, Gratz erzählt quasi Weltgeschichte und Short-storys zugleich. Die Zeiten – Urgeschichte, Mythologie, Religions-, Weltkriege und moderne Welt – ereignen sich in seinen Bildern simultan.
Er ist zwar bekennender Protestant, politisch-psychologisch mit feinsten Fühlern ausgestattet, doch der Kompass seiner Kunst ist einzig Farbe, Form, Fantasie. Diese Qualitäten hatte Konrad Oberländer vor Jahren entdeckt. Der vor kurzem verstorbene Galerist lud Gratz zu seiner „Nationalen der Zeichnung“(1995, 1999, 2001), richtete ihm Ausstellungen aus, kontaktierte ihn noch im letzten Jahr in seiner Leitershofer Galerie, sodass nicht zuletzt aus dieser Begegnung die jetzige Ausstellung im benachbarten Kunstraum am Pfarrhof resultierte. Galerist Michael Kießling realisierte sie im Zusammenklang mit Oberländers Witwe Irene Oberländer.
Es gibt Titel in dieser Schau (Öl auf Leinwand oder Holz), die ein geschichtliches oder politisches Thema formulieren, das auch malerisch aufscheint. Doch Gratz lässt es nirgendwo allein für sich wie ein
Denkmal im Raum stehen. Vielmehr wird es umspielt und konterkariert von einer Szenerie teils mythisch-fantastischer Gestalten, Stargesichter aus Film und Fernsehen, oder auch modern-trivialer Figuren. Dazu kommen Anspielungen auf die Kunstgeschichte. Beispiel: Man erkennt in „Die Spaltung“den Thesen-anschläger Luther, aus dessen Bibel das Kreuz mit einem neuen Christus herauswächst. Und da läuft schon der Strom der Assoziationen: Das Luther-antlitz ist die Physiognomie von Filmstar Heino Ferch, mit dem der Maler befreundet ist, der seine Traumbesetzung für Luther wäre; und Ferch-luther driftet weiter auf dem Panorama in neue Positur, als moderner Mönch, der ratlos mit zwei Globussen jongliert – „Wie geht’s weiter mit der Welt…?“Diese treibt in irrealen Visionen durch die obere Bildhälfte.
Auch andere geschichtliche Epochen und menschliche Katastrophen scheinen durch Gratz’ Fantasieraum zu schweben. „Die Nacht von Waterloo“: Napoleons hier arglos naive Physiognomie umtaumelt, mit brillanter Hell-dunkel-staffelung im gemalten Farbrausch, ein flirrendes Personal vom barocken Machtkardinal über kitschig beleuchtete Madonnen bis zur giftgrünen Angstfratze. Die Tableaus irrlichtern hinreißend zwischen großer Szene, Expression, Psychologie, Karikatur und Comic, zwischen Urzeit (Adam und Eva) und heute, jetzt. Als Fazit könnte das Bild „Warten auf Godot“stehen: Zwischen Adam und Eva, nackt, modern, gepierct, sitzt auf einer roten Bank ein dunkelhäutiger Gentleman mit weißem Bart. ⓘ
Bis 13. Dezember, geöffnet Sa/so 15–18 Uhr und Tel. 08 21/344 57 31.