Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Helfer gewinnt den Giro
Der Brite Tao Geoghegan Hart war eigentlich maximal die dritte Option seines Rennstalls. Das Corona-chaos überlagerte das sportliche Geschehen während der Rundfahrt durch Italien
Mailand Im Herzen Mailands posierte Sensationssieger Tao Geoghegan Hart für die ersten Jubelfotos und küsste seine Liebste. Die Bilderbuch-aufnahmen vor dem prunkvollen Duomo in der Modestadt werden den Sieger des 103. Giro d’italia für immer an seinen riesigen Coup erinnern. Hart kam mit der Referenz eines 20. Platzes bei der Vuelta und geht als einer der herausragenden Sieger des Coronajahres 2020. Der 25 Jahre alte Brite krönte am Sonntag beim abschließenden Zeitfahren in Mailand seine exzellente Rundfahrt und distanzierte seinen australischen Rivalen Jai Hindley um 39 Sekunden. Für seinen ersten Giro-sieg genügte Ineos-profi Hart über die 15,7 Kilometer ein abschließender 13. Platz.
„Noch nicht einmal in meinen Träumen habe ich gedacht, dass das passieren könnte. In meiner Karriere habe ich immer von Top 5 oder Top 10 geträumt bei solchen Rennen“, sagte der in London geborene Profi, der eigentlich vom Bahnradsport kommt. Nach dem Zieleinlauf war der Shootingstar kurz erschöpft über seinem Rad zusammengesackt – wenige Sekunden später fing er sich wieder und hüpfte ausgelassen durch die Mailänder Fußgängerzone. „Außergewöhnlich“nannte Hart die Momente an diesem besonderen Sonntag. Teamchef Dave Brailsford lobte: „Er ist großartig in diese Rolle reingewachsen.“Hart war beim Spitzen-rennstall Ineosgrenadiers maximal als Helfer eingeplant und sollte den früheren Tour-sieger Geraint Thomas in den Bergen begleiten. Doch als Thomas nach einem Sturz früh ausschied,
der Weg für Hart frei. „Es macht einen auch stolz, wenn ein zweimaliger Weltmeister für einen fährt“, sagte Hart über seinen Teamkollegen Rohan Dennis, der stattdessen ihm in den Bergen den Weg zu diesem Titel geebnet hatte.
Auf den schweren Bergetappen in der Schlusswoche, die unter anderem zum schneebedeckten Stilfser Joch auf 2757 Meter führten, musste es Hart mit dem Sunweb-duo Hindley und Wilco Kelderman (Niederlande) aufnehmen. Der Briwar te verlor auf keinem Teilstück Zeit und nahm eine brillante Ausgangsposition in den abschließenden Kampf gegen die Uhr. „Das wird längere Zeit dauern, bis das bei mir angekommen ist“, sagte Hart nach dem Triumph. Auch ein australischer Premierensieg für Hindley wäre eine absolute Sensation gewesen.
Nach der weitgehend reibungslos abgespulten Tour de France war der Giro zwischenzeitlich im Coronachaos versumpft. Die Mitfavoriten Simon Yates und Steven Kruijswijk wurden nach positiven Tests aus dem Rennen genommen, ihre Rennställe Mitchelton-scott und Jumbovisma um den deutschen Routinier Tony Martin zogen sich zurück. Kurzzeitig stand auch ein vorzeitiger Abbruch des Giro zur Debatte. Der deutsche Rad-funktionär Ralph Denk plädierte trotz gestiegener Zahlen und einer ersten Testrunde mit acht Corona-fällen für die Fortsetzung. „Ich habe da schon die Meinung, dass so ein Radrennen komplett losgelöst gesehen werden muss von der Pandemie. Das ist ja ein geschlossenes System, eine geschlossene Blase“, sagte Denk. Sein künftiger Schützling Kelderman hätte sich in Italien selbst fast gekrönt, musste aber in der letzten Woche im Hochgebirge einmal zu häufig abreißen lassen. Kelderman wurde Gesamtdritter.