Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Dürfen uns bei Antisemitismus nicht wegducken“
Joe Kaeser erklärt, warum er sich immer wieder in die politische Diskussion einbringt. Das Engagement des Siemens-chefs hat auch mit dem Schicksal seines Onkels zu tun, den die Nazis nach Mauthausen verschleppt haben „Wehret den Anfängen“
Herr Kaeser,
Joe Kaeser: Ich feiere Weihnachten mit Sicherheit nicht als Party, höchstens im kleinen Kreis. Wir werden alle Regeln beachten, sodass sich niemand anstecken kann. Wirtschaftslenker, die von Mitarbeitern Verantwortung einfordern, müssen auch selbst Verantwortung übernehmen. Wir alle sollten uns jetzt umsichtig verhalten.
wie
feiern
Sie
Weihnachten?
Corona-gegner tun das vielfach nicht. Rechte Aktivisten ließen sich wohl von Afd-politikern in den Bundestag einschleusen und bedrängten etwa Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Da wäre doch ein Tweet von Ihnen fällig gewesen?
Kaeser: Ich habe dazu keinen Tweet verfasst, weil so viele andere bereits Position bezogen hatten. Viel wichtiger ist es mir, dann meine Stimme zu erheben, wenn Minderheiten Unterstützung brauchen oder sich nur wenige trauen, ihre Meinung zu sagen, weil ihnen die Gegner zu mächtig erscheinen. Genau dann muss man sich zu Wort melden und nicht erst, wenn es sich schon Tausende getraut haben.
Können Sie ein Beispiel nennen? Kaeser: So habe ich mich eben geäußert, als Menschen auf dem Mittelmeer ertrunken sind, weil unsere europäische Flüchtlingspolitik das nicht verhindern konnte. Und das gilt auch, wenn es formal wie in Italien gegen geltendes Recht verstößt, wenn ein Boot mit Flüchtlingen in einem Hafen einläuft. Das Thema ist kompliziert, aber es geht immerhin um viele Menschenleben. Langfristig kann eine verfehlte Migrationspolitik sogar den Frieden und die demokratische Ordnung gefährden. Das ist Grund genug, die Verantwortlichen in Europa aufzufordern, Lösungen für diese menschlichen Tragödien zu finden. Die Mächtigen in Europa kommen hier ihrer Verantwortung nicht nach – und das trotz des relativen Wohlstands dieser Länder.
Sie lüften also hier Ihr Twitter-geheimnis: Sie twittern dann, wenn mit Minderheiten ungerecht umgegangen wird und sich nicht genügend Menschen dagegen erheben.
Kaeser: Unter anderem. Ich nenne dafür noch ein anderes Beispiel: Heute wird plötzlich der noch amtierende Us-präsident von vielen mit Häme überzogen, die noch vor nicht langer Zeit geschwiegen oder ihn bedingungslos gelobt haben.
Sie haben Trump Mitte 2019 vorgehalten, wie sehr es sie bedrückt, dass das „wichtigste politische Amt der Welt das Gesicht von Rassismus und Ausgrenzung wird“.
Kaeser: Ich habe ihn auch dafür gelobt, dass er durch eine wirtschafts
Steuerreform Arbeitsplätze in seinem Land schafft. Aber ihn eben auch deutlich kritisiert, dass er im Zenit seiner Macht mit einer brüllenden Menge im Hintergrund deren rassistische und ausgrenzende Äußerungen toleriert hat. Wer die Verrohung der Sprache zulässt oder sie gar unterstützt, ist mitverantwortlich, wenn aus Worten Taten werden. „Black Lives“– wie die aller anderen Menschen auch – waren immer schon wichtig. Die Würde aller Menschen sollte unantastbar sein. Es betrübt mich, dass dies erst wieder durch Tragödien ins Bewusstsein der Menschen rückt.
Aber ist es Ihre Aufgabe Manager, solche Missstän- de anzuprangern? Ist das nicht das Geschäft der Politik?
Kaeser: Gute Frage. Jedenfalls ist es bequemer, das der Politik zu überlassen. Ich bin viel in der Welt herumgekommen. Dadurch erschließen sich Zusammenhänge, die man in den eigenen vier Wänden weder sieht noch verbinden kann. Allein schon daraus erwächst eine Verantwortung. Ob man dann als angestellter Manager immer einen Tweet schreiben muss, ist eine andere Sache. Das muss jeder für sich entscheiden, schließlich gibt es ja auch in extremen Lagern Kunden. Jeder Manager sollte es sich sorgfältig überlegen, ob und wie er oder sie sich politisch einmischt. Am Ende muss man zu den Konsequenzen stehen, die ein solches Engagement nach sich zieht.
als
Am meisten fordert Sie immer wieder Rassismus heraus. Dann mischen Sie sich ein.
Kaeser:
Das war schon immer so.
Woran liegt das?
Kaeser: Das ist für mich vorwiegend die klare Konsequenz aus der deutschen Geschichte, also dem Nationalsozialismus. So etwas darf nie wieder passieren. Es schmerzt mich, wenn ich 75 Jahre nach Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz darüber nachdenke, wie es möglich war, dass Deutsche solche Taten begangen haben, einen solchen Zivilisationsbruch. Das alles konnte eigentlich nur passieren, weil zu viele Verantwortliche aller gesellschaftlichen Gruppierungen zu lange geschwiegen haben. 1939 war es dann zu spät. Wirtschaftslenker, wie ich heute einer bin, haben zu lange geschwiegen. Deswegen schweige ich nicht – gerade auch weil Antisemitismus und Ausgrenzung nicht aus Deutschland verschwunden sind. Wir müssen verhindern, dass diese Tendenzen in unserer Gesellschaft stärker werden.
ist „Wehret den Anfängen“Ihr Motto.
Kaeser: Das gilt in jeder Hinsicht. Deshalb möchte ich diesem Anspruch jeden Tag aufs Neue als Vorstandsvorsitzender gerecht werden. Meine Aufgabe verstehe ich eben nicht nur darin, Gewinne zu machen und Verluste zu vermeiden.
Wie stark hat hierbei geprägt?
Kaeser: Meine Großmutter litt ihr Leben lang unter dem, was meinem Onkel – ihrem Sohn – von den Nationalsozialisten angetan wurde. Er hatte sich geweigert, sich dem Regime anzuschließen. Erst wurde er von den Nazis nach Dachau verschleppt und dann in Mauthausen ermordet. Er hatte noch nicht einmal etwas mitgenommen, als sie ihn abgeholt haben. Er sagte noch, er komme bald wieder, schließlich habe er nichts verbrochen. Mit 23 Jahren war er dann tot. Meine Großmutter hat das ihr Leben lang sehr belastet. Mich bewegt die Geschichte bis heute. Wie Sie sagen: Wehret den Anfängen! Das gilt auch, wenn man zum Teil mit heftigen Reaktionen leben muss.
Sie
Ihre
Großmutter
Oft mit Hass. So haben Sie etwa eine entsprechende Mail von der Adresse adolf.hitler@nsdap.com bekommen. Darin wurde Ihnen Gewalt angedroht. Kaeser: Darauf habe ich zurückgeschrieben, dass die Hölle offenbar bereits digitalisiert ist, nachdem der Teufel schon eine E-mail-adresse hat, während wir uns hier in Bayern abmühen, abgelegene Weiler zu digitalisieren. Ich musste darauf einfach reagieren, denn wer sich einschüchtern lässt, der hat schon verloren. Und das war nicht die einzige Morddrohung, die ich erhalten habe. Doch für mich ist dennoch klar: Man muss aufstehen und Profil zeigen. Wir dürfen uns bei Antisemitismus und Rassenhass nicht wegducken. Das ist eine moralische Aufgabe für Deutschland und die Spitzenvertreter des Landes. Viele einfache Bürger finden kein öffentliches Gehör. Deswegen sollten auch bekannte Meinungsbildner das Wort erheben. Auch die Siemens AG weist im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus dunkle Flecken auf, Stichwort Zwangsarbeiter. Auch daraus erwächst eine Verantwortung.
Steht Siemens heute besser als 2013 da, als Sie den Chefposten von Peter Löscher übernommen haben?
Kaeser: Zunächst einmal bin ich mit dem Versprechen angetreten, Siemens einmal geordnet und frühzeitig an einen Nachfolger zu übergeben. Der Übergabeprozess, als ich das Amt des Siemens-chefs von Pefreundliche ter Löscher übernahm, war meinem Vorgänger gegenüber unanständig.
Unanständig?
Kaeser: Der Stil war nicht in Ordnung. Ein solcher Übergangsprozess an der Führungsspitze war einem Unternehmen wie Siemens nicht würdig. Ähnlich verhielt es sich schon, als Peter Löscher Klaus Kleinfeld ablöste. Ich habe mir damals vorgenommen, das besser zu machen. Und das glückt jetzt mit meinem Nachfolger Roland Busch sehr gut. Darüber freue ich mich. Vor allem wollte ich aber Siemens in einem besseren Zustand übergeben, als ich den Konzern übernommen habe.
Wie lässt sich das überhaupt belegen? Kaeser: Das kann man zum Beispiel am Börsenwert messen. Ende Juli 2013 stand die Siemens-aktie, als Gerüchte auftauchten, ich würde den Vorstandsvorsitz übernehmen, bei knapp 77 Euro. Heute notiert die Aktie bei rund 112 Euro. Wenn man die in diesem Wert nicht enthaltenen Beiträge der an die Börse gebrachten Medizin- und Energiesparte einrechnet, kommt man für die Siemens-aktie auf einen Kurs von 130 bis 135 Euro im Vergleich zu den 77 Euro vor sieben Jahren. Siemens steht also erheblich besser da als bei meinem Amtsantritt und hat sich bei der Gesamtrendite einschließlich der Dividenden etc. erheblich besser entwickelt als der Dax 30. Erfolge zeigen sich auch an der Ertragsmarge. 2013 lagen wir hinter den meisten unserer Wettbewerber. Heute liegen wir vor vielen, aber nicht allen Konkurrenten. Wir sind aber auf gutem Weg, überall die Nummer eins zu werden. Auch bei der Anzahl der Mitarbeiter über alle Geschäfte konnten wir im Laufe der Jahre zulegen.
Hätte Siemens noch erfolgreicher sein können?
Kaeser: Es hätte besser sein können und möglicherweise auch müssen, gerade wenn man einige unserer erfolgreichsten Wettbewerber in Asien oder in den USA als Vergleich heranzieht. Doch das Wünschenswerte stimmt nicht immer mit dem Machbaren überein.
Wie meinen Sie das?
Kaeser: Man muss eben möglichst viele Menschen auf dieser Reise zu Neuausrichtung und höherer Rentabilität mitnehmen. Es ist besser, weniger mit vielen Menschen zu erreichen als viel mit wenigen Menschen. Dazu bedarf es Kompromisse. Die Integration konfliktärer Interessen zwischen Aktionären, Mitarbeitern und der Gesellschaft im Allgemeinen ist ein schwieriges Pflaster.
Sie hätten also in einigen Bereichen für die Durchsetzung einer höheren Rendidamit te noch mehr müssen.
Kaeser: Uns war es immer wichtig, dass strukturelle Veränderungen verstanden und mitgetragen werden. Es ging mir also immer darum, die Interessen der Mitarbeiter, der Aktionäre und der Kunden gleichermaßen zu beachten. Da kann man – anders als Wettbewerber in den USA – nicht immer machen, was wünschenswert ist.
Arbeitsplätze
streichen
Am 3. Februar endet mit der Hauptversammlung Ihre Zeit als Siemenschef. Wie nutzen Sie dann die Ihnen plötzlich zur Verfügung stehende freie Zeit? Gehen Sie auf den Jakobsweg, überqueren Sie die Alpen oder studieren Sie Philosophie?
Kaeser (lacht): Das weiß ich noch nicht. Ich weiß aber definitiv, dass ich nicht in Hektik verfallen werde und mir dauernd überlege, wie ich noch am Ball bleiben kann. Ich sehe das gelassen und genieße die Übergangszeit. Herr Busch führt ja seit dem 1. Oktober schon operativ die Geschäfte und das sehr überzeugend. Die Stimmung im neuen Managementteam ist trotz der Pandemie ausgezeichnet.
Auf alle Fälle haben Sie mehr Zeit, Popmusik der 70er Jahre zu hören, die Sie so gerne mögen. Was sind Ihre Lieblingsbands?
Kaeser: Ich mag Bands wie die Birds, Creedence Clearwater Revival und vor allem die Eagles. Das Lied „Hotel California“mag ich besonders.
In dem Song heißt es: „You can check out any time you like, but you can never leave.“Man kann also aus dem Hotel jederzeit auschecken, aber man bleibt ihm dennoch letztlich auf ewig verbunden. Ist das nicht ein gutes Motto für Sie nach dem 3. Februar? Auf ewig Siemens?
Kaeser (lacht): Diese Strophe amüsiert mich jedenfalls: Man kann gehen und ist dennoch nie weg. Ich verspreche jedenfalls, meinen Nachfolgern keine ungebetenen Ratschläge zu erteilen. Wenn mich jemand fragt, werde ich Antworten geben. Ich kann nicht versprechen, dass das dann immer gefällt. Meine Antworten werden aber ehrlich sein.
Reizt es Sie wechseln?
Kaeser: Politik setzt sehr viel Geduld voraus und die Fähigkeit, immer zwischen dem Machbaren und dem Wünschenswerten abzuwägen. Da muss sich jeder fragen, ob er dafür der richtige Typ ist.
nicht,
in
die
Politik zu
Sind Sie der richtige Typ für die Politik? Mit Balanceakten zwischen dem Machbaren und dem Wünschenswerten haben Sie ja Erfahrung.
Kaeser: Ich glaube, ich wäre kein guter Politiker.
Interview: Stefan Stahl