Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Bremsen‰patriarch fühlte sich verkannt

Heinz Hermann Thiele erkannte früh die Chancen der Globalisie­rung und wurde einer der reichsten Deutschen. Jetzt starb er mit 79

- VON STEFAN STAHL

München Mit 79 Jahren wollte der Unternehme­r Heinz Hermann Thiele noch mal abheben, als wäre Bob Dylans Lied „Forever Young“ihm auf den Leib geschriebe­n. In dem gebetsarti­gen Song des wie Thiele letztlich doch knorrigen Musik-titanen heißt es ja: „Möge Gott Dich segnen und allzeit halten. Mögest Du für immer jung bleiben.“

So hatte sich der am Dienstag mit 79 Jahren im Kreise der Familie in München gestorbene Milliardär und Mehrheitsa­ktionär der Münchner Knorr-bremse AG nach seinem Geburtstag am 2. April vergangene­n Jahres noch viel vorgenomme­n. Als andere in Corona-zeiten von Angst gelähmt wirkten, machte sich Thiele auf, wieder nach den Sternen zu greifen, es allen zu zeigen, was ein wahrer Unternehme­r ist. Er beteiligte sich an der schwer gebeutelte­n Lufthansa, um zuletzt nach dem Staat als Retter in der Not und Großaktion­är 12,42 Prozent der Anteile an der Airline zu halten.

Eigentlich, sollte man denken, müssten alle dankbar gewesen sein, dass ein deutscher Investor bei der Kranichlin­ie einsteigt, hat Thiele doch mit Bärenkraft, strategisc­her Weitsicht und der Erfolgsmen­schen oft eigenen Sturheit aus einem angeschlag­enen Mittelstän­dler den Weltmarktf­ührer für Bremssyste­me mit knapp 30 000 Mitarbeite­rn geformt. Doch die Begeisteru­ng über das Lufthansa-abenteuer des Mannes hielt sich in Grenzen. Denn zeitweise bestand die Gefahr, er könnte als marktwirts­chaftliche Dauer-kämpfernat­ur gegen den Einstieg des Staates bei dem Konzern stimmen.

Thiele trauten viele alles zu, hatte er doch sein Unternehme­n vom Tarifvertr­ag der Metall- und Elektroind­ustrie ferngehalt­en, ja die 42- statt der 35-Stunden-woche durchgeset­zt. Hätte der Patriarch am Ende die Hilfsaktio­n des Staates für die Lufthansa blockiert und damit vielleicht die Existenz des Unternehme­ns gefährdet, sein dritter Frühling wäre zu einem medialen Horror-trip verkommen, schließlic­h ist die Lufthansa wie Volkswagen ein nationales Heiligtum.

Am Ende zeigte sich Thiele nach anfänglich­em Aufbrausen – wie schon oft zuvor – als Patriot. Er beteuerte fast sanftmütig: „Ich will ein stabiler Ankeraktio­när sein. Ich bin zuversicht­lich, dass die Lufthansa nach der Krise wieder die stärkste Airline in Europa wird.“Dabei wäre es interessan­t gewesen, wie Thiele seine Rolle als stabiler Anker-aktionär wahrgenomm­en hätte, gerade wenn die Lufthansa ab 2023 wieder auf Erfolgskur­s einschwenk­t. Dann wäre sicher im Patrioten der Marktwirts­chaftspatr­iarch durchgekom­men. Thiele hätte wohl Stress gemacht und ein Ausstiegss­zenario für den Staat als größter Aktionär der Fluglinie gefordert. Das hätte sich der Unternehme­r wahrschein­lich nicht entgehen lassen.

In derartigen Momenten sind Härte und die Fähigkeit, Kritik an sich wie Wassertrop­fen nach einem Frühlingsr­egenguss abprallen zu lassen, gefragt. Das war Thieles Kernkompet­enz. Dann leuchteten die Augen des Unternehme­rs hinter der halben Brille vor. Ein entschloss­enes Lächeln huschte über sein Gesicht. Mit seiner sonoren Radiostimm­e konnte der Jurist druckreif sprechen. Thiele erzählte gerne über sich, seine Herkunft und das, was ihn antreibt. Dabei wurde ihm unterstell­t, er öffne sich zu wenig. Zu den Vorwürfen, die Thiele empörten, sagte er: „Ich weiß, Journalist­en sehen in mir lieber den exzentrisc­hen öffentlich­keitsscheu­en Unternehme­r.“Das treffe jedoch nicht zu. Darauf folgte ein Selbstbeke­nntnis: „Ich bin viel differenzi­erter.“Um den Mann, der in Kreisen der

Ig-metall schon mal als „Gewerkscha­ftsfresser“gebrandmar­kt wurde, besser zu verstehen, hilft eine Reise in seine Kindheit. Thiele war ein Flüchtling­skind. Seine Mutter ist mit der Familie samt Kinderwage­n und Handkarren wochenlang auf Straßen aus Ostdeutsch­land vor den Russen geflohen. Der spätere Milliardär erinnerte sich an die Zeit: „Da mussten wir hungern und waren auf die Hilfe von Landwirten angewiesen.“Sein Vater, der 1945 aus der Kriegsgefa­ngenschaft zurückgeke­hrt war, arbeitete wieder als Rechtsanwa­lt und Notar, starb aber 1963 im Alter von 61 Jahren. Thiele wuchs nach dem Verlust des Familienbe­sitzes in Berlin in bescheiden­en Verhältnis­sen auf.

Auch hier bewahrheit­et sich, wie prägend Kindheitse­rlebnisse sind. Thiele hat „gelernt, in harten Zeiten zu überleben“. Das sei ein wesentlich­er Treiber seiner Arbeit. Wenn der Unternehme­r über die Erlebnisse sprach, wurde deutlich, dass er in der Lage war, sich mit einer gewissen Distanz zu analysiere­n: „Ich verlasse mich stark auf mich selbst und meine Durchsetzu­ngsfähigke­it.“Bis zuletzt mischte er bei Knorr-bremse mit und wechselte 2020, im Jahr seines dritten Frühlings, wieder in den Aufsichtsr­at, obwohl er sich längst auf den Ehrenvorsi­tz des Kontrollgr­emiums zurückgezo­gen hatte. Thiele konnte wie viele Patriarche­n nicht loslassen, gerade, wenn er Gefahr roch, sein Lebenswerk könnte Kratzer bekommen. Seine Top-manager mussten mit dem beständige­n Misstrauen des Seniors rechnen. Das muss man als Führungskr­aft mögen.

Dem Konzern ist die Kümmererro­lle Thieles gut bekommen. In der Mitteilung des Unternehme­ns zu seinem Tod wird ein Satz zitiert, der verdeutlic­ht, wie er zu einem Dauerschaf­fer wurde, der 1969 als juristisch­er Sachbearbe­iter in der Patentabte­ilung von Knorr-bremse klein anfing, es zum Chef brachte und mithilfe der Banken die Firma übernahm: „Ich habe die äußerst beschränkt­en finanziell­en Verhältnis­se und die mir sehr fehlende Vaterfigur

genutzt, um aus eigener Kraft etwas zu schaffen.“Am Ende waren es Defizite, die ihn antrieben, nach oben zu streben. Dabei erkannte Thiele in den 70er Jahren und früher als andere Unternehme­r die Chancen der Globalisie­rung. Er flog hinaus in die Welt, ob nach Japan, China, die USA, Südamerika oder Indien, um Kunden für Bremsen aus dem Bereich der Schienenun­d Nutzfahrze­uge zu gewinnen. Das tat er so intensiv, dass die Gesundheit irgendwann nicht mehr mitspielte. Doch Thiele fand zu alter physischer Stärke zurück.

Hätte er sich sonst wieder noch leidenscha­ftlicher um das seit 2018 an der Börse notierte Unternehme­n gekümmert und die Lufthansa aufgemisch­t? Es müssen noch gute Monate im vergangene­n Jahr für ihn gewesen sein. Seine Augen haben sicher wieder über die halbe Brille hinweg Tatendurst ausgestrah­lt. Er muss sich jung und nach wie vor „verkannt“gefühlt haben. Denn der Unternehme­r sah sich „nicht nur als Kapitalist­en“, wie er oft beschriebe­n wurde. In einem schwachen und gnädigen Patriarche­nmoment beichtete er: „Geld ist für mich nicht alles.“Thiele sah Knorrbrems­e auch als Unternehme­n mit ausgeprägt­er sozialer Komponente. Wenn gerade etwas bei den kleinen Leuten nicht so richtig in der Firma laufe, dann mische er sich ein. Das ist die gütige Seite eines Patriarche­n.

Thiele hatte nie vergessen, wo er herkommt und was es für ein harter Weg war, ein geschätzte­s Vermögen von 18,2 Milliarden Dollar anzuhäufen, was seine Familie auf Platz acht der Rangliste der reichsten Deutschen katapultie­rt hat.

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Foto: Imagoimage­s 2018 ging Knorr‰bremse in Frankfurt an die Börse. Es war ein Höhepunkt im Berufs‰ leben von Heinz Hermann Thiele, der mit 79 Jahren starb.

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