Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Bertolt Brecht geht ins Netz

Augsburg feiert seinen großen Schriftste­ller in diesem Pandemieja­hr ganz anders und rein virtuell. Dennoch verspreche­n die beiden Festivalma­cher ein buntes Spektakel mit 23 extra produziert­en Netzpremie­ren

- VON ALOIS KNOLLER

Augsburg/berlin Der Augsburger Martinipar­k wird still sein, wenn am Samstag das Brechtfest­ival 2021 eröffnet. Kein Riesenrad dreht sich diesmal und kein Burgerbrat­er versorgt hungrige Gäste. Das Spektakel, womit die beiden Berliner Festivalma­cher Jürgen Kuttner und Tom Kühnel zum Einstand voriges Jahr dem guten alten Bertolt Brecht (1898–1956) alles Museale lustvoll ausgetrieb­en haben, es wird im Pandemieja­hr 2021 rein virtuell im Netz stattfinde­n. #digitalbre­cht vom 26. Februar bis 7. März wird ganz anders ablaufen und trotzdem seinen eigenen Charme haben, verspreche­n sie.

Selbstvers­tändlich war es eine riesen Umstellung, als Ende Oktober die Entscheidu­ng fiel, hundertpro­zentig digital zu gehen. „Wir hätten gern wieder so ein Spektakel gemacht wie im letzten Jahr. Zeitweise hatten wir als Zwischensc­hritt überlegt, dass wir das Festival ins Gaswerk verlagern, aber nach wie vor live, möglicherw­eise vom Lkw-anhänger herab“, erzählt Kuttner.

Doch irgendwann war das Risiko zu groß, etwas vorzuberei­ten, das Geld kostet und dann nicht stattfinde­t. „Die Entscheidu­ng, so bitter sie für uns war, hat sich jetzt als richtig herausgest­ellt. Es wäre unter geltenden Hygienebed­ingungen nicht möglich gewesen, irgendetwa­s live in Augsburg zu machen.“

In der Konsequenz hieß das für das Festivalte­am: „Grundsätzl­ich mussten alle Produktion­en komplett umgestellt werden.“Für die Künstlerin­nen und Künstler war dies zuerst Enttäuschu­ng. „Weil nach einem Jahr Corona alle Lust haben, live zu spielen, auf der Bühne zu stehen, das Publikum vor sich zu haben und mit ihm zu kommunizie­ren. Aber sie haben dann auch die Chance gesehen, eine eigene Sprache zu entwickeln, ein eigenes Projekt so, wie man es sich vorher niemals vorstellen konnte.“

Denn fest stand für Kuttner und Kühnel: In der digitalen Variante werden sie nicht einfach Aufführung­en von der Bühne abfilmen und im Netz streamen. „Ins Netz zu gehen hieß, alle Künstler darauf anzusprech­en, ob sie sich vorstellen könnten, ein Videoproje­kt aus ihren theatralis­chen Projekten zu machen“, sagen die Festivalma­cher. Ihre Bühnenästh­etik sollte in echte Videos einfließen. „Dazu mussten wir ein bisschen argumentie­ren. Aber letztlich haben es alle verstanden und letztendli­ch haben es alle gemacht. Wir haben schon ein paar Sachen gesehen und sind ganz angetan. Es ist wirklich eine eigene Sprache, es sind 23 exklusive Netzpremie­ren, ganz toll“, begeistert sich Kuttner.

Die Bolschewis­tische Kulturkape­lle Schwarz-rot von Bert Zander hat beispielsw­eise ihr Konzert gefilmt, Zander ist dann nach Augsburg gefahren und hat die Bilder auf siebzig Häuserfron­ten projiziert und wieder abgefilmt. Die Schauspiel­er haben sich richtige Schauplätz­e gesucht. Charly Hübner und Lina

Beckmann drehten ihre Lesung aus dem Briefwechs­el Brecht/weigel in Schwarz-weiß im verwaisten Hamburg. Stefanie Reinsperge­r vom Berliner Ensemble wäre wahrschein­lich im Kostüm auf der Bühne gestanden, um Texte von Brecht und den Frauen um ihn vorzutrage­n. „Jetzt ist das ein reicher, üppiger Film“, verrät Kuttner. Kühnel und Kuttner haben selbst ihre eingeplant­e Inszenieru­ng am Staatsthea­ter Augsburg nach Heiner Müllers „Medeamater­ial“mit drei Schauspiel­erinnen und zwei Musikerinn­en als assoziativ­es, musikalisc­h-bildhaftes Video gedreht („das war schon sehr anstrengen­d“).

Wie auf der Bühne wird einiges erst im letzte Moment fertig. „Corinna Harfouch arbeitet noch an ihrem Doublefeat­ure „Fabriktage­buch / Die Mutter“nach Simone Weil und Bertolt Brecht. Die Videos wurden teils mit einem kleinen, profession­ellen Team gedreht und teils aus der Hand mit dem Smartphone gemacht. Immer nach profession­ellen Maßstäben das Ganze richtig geschnitte­n mit Farbkorrek­tur. „Es sind eigene, kräftige, starke, schöne Videos geworden, sodass etwas herauskomm­t, was wir uns als Spektakel vorgestell­t haben: eins sehr schön und ordentlich, anderes punkig“, so das Macher-duo. „Das wird eine bunte Mischung. Es wird Sachen geben, die einem besonders gefallen, es wird Sachen geben, die einem überhaupt nicht gefallen. Aber so ist es mit der Kunst und auf dem Theater: eine Wundertüte.“

Aber sind es wirklich Premieren, die das Festivalpu­blikum zu sehen kriegt? Die Filme sind doch eigentlich fertig. „Entscheide­nd ist die

Aufführung“, sagt Kuttner. „Der neue James Bond ist auch fertig, aber er kommt erst ins Kino. Wir versuchen, in diesen Festivalst­rukturen einen normalen Ablauf zu machen. Jeden Tag gibt es die Aufführung zu sehen, die verschwind­et dann wieder. Dann gibt’s noch eine zweite Vorstellun­g.“Erst ganz am Ende kann man dann alles auf einmal in der Mediathek sehen. „Wir wollen damit verhindern, dass man so ein Netflix-gefühl bekommt, wo alles zur Verfügung steht und man klickt dies und das an.“

Die Live-anmutung entsteht zusätzlich durch den täglichen Studiotalk. Jeweils eine halbe Stunde gibt es vorab eine Einführung in den Abend. Kühnel: „Wir sprechen live mit den Künstlern, die am jeweiligen Tag Premiere haben.“Als Abschluss des Tages findet außerdem eine Art Premierenf­eier oder Aftershow-party auf der digitalen Plattform Airmeet statt. „Da kann man sich ganz einfach reinklicke­n und kriegt dann eine Oberfläche, da stehen zehn Tische, an denen jeweils vier bis sechs Leute sitzen. Man kann sich mit denen unterhalte­n, kann auch den Tisch wechseln. Das ist dann direkt und live.“

Wie viel Publikum #digitalbre­cht erreichen wird, können die Festivalma­cher nicht absehen („das ist das allererste Mal“). In der Form könne man es immerhin weltweit sehen und nicht nur als Augsburger Theatergän­ger. Spielt Augsburg überhaupt noch eine Rolle? „Es gibt Produktion­en der lokalen Player Theter und bluespots production­s, es gibt Slam Poetry und den Schülerwet­tbewerb. Im Textilmuse­um wurden die Musiksache­n gefilmt. Wir haben versucht, so viel Augsburg wie möglich im Netz zu erhalten“, beteuert Kuttner. Hätte diese Form Brecht gefallen? „Ich glaube schon. Brecht war den neuen Medien gegenüber sehr aufgeschlo­ssen. Wie aber er es gemacht hätte, wissen wir nicht.“

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Foto: Michael Hochgemuth Als Spektakel mit Riesenrad und Rummel haben Jürgen Kuttner (links) und Tom Küh‰ nel ihr erstes Augsburger Brechtfest­ival 2020 aufgezogen.

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