Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Merkel und die wilde 35
Die Kanzlerin warnt einerseits vor weitgehenden Öffnungen inmitten der Pandemie, muss aber auf Druck aus den Ländern von der starken Orientierung am Inzidenzwert abrücken. Zeichnet sich da schon ein Kurswechsel ab?
Berlin Monatelang hat ihre Taktik funktioniert: Die Zahlen gaben das Tempo vor, die Ministerpräsidenten folgten zumindest weitgehend der Marschvorgabe der Kanzlerin. Ihre Losung: Wir fahren auf Sicht, weil die Krise uns keine andere Wahl lässt. Zwar war hier und da ein Murren vernehmbar, doch mehr als kleine Zugeständnisse konnten sich die Länderchefs nicht herausnehmen. Die ungewöhnliche Mischung aus nüchterner Naturwissenschaftlerin und ungewohnt emotionaler Anführerin war es, die die Autorität der Regierungschefin fast schon unangreifbar machte. Inzwischen gerät der Politikstil von Angela Merkel an seine Grenzen. Kurz vor dem nächsten Corona-gipfel erklingt ein vielstimmiges Konzert aus Lockerungsrufen. Noch bevor sich die Runde zusammengesetzt hat, preschen die Bundesländer mit eigenen Konzepten nach vorn und treiben die Kanzlerin vor sich her: Bayern wird ab Montag die Baumärkte und Gärtnereien öffnen, Hessen Beratungstermine im Einzelhandel ermöglichen, Baden-württemberg private Treffen erlauben, in Brandenburg sind bereits jetzt die Zoos zugänglich. „Die Leute haben die Schnauze voll“, mault Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier.
Tatsächlich beurteilen die Deutschen den Umgang der Politik mit der Krise auffallend schlechter als zu Beginn der Krise – und das führt im Wahljahr zu steigender Nervosität. Die Einschätzung der Deutschen, Bundeskanzlerin Angela Merkel gehe gut mit der Corona-krise um, liegt aktuell bei 43 Prozent, das sind 14 Prozentpunkte weniger als noch im April 2020, als 57 Prozent der Befragten ihr das Vertrauen aussprachen. Nicht viel anders sieht die Beurteilung für Markus Söder aus, dem im Februar nur noch 40 Prozent ein gutes Vorgehen bescheinigen (53 Prozent im April 2020).
Selbst die Warnungen vor einer dritten Welle verhallen im politischen Raum und zwingen die Kanzlerin, eigene Strategien vorzulegen, die weniger wie eine Fortschreibung der eigenen Linie, sondern vielmehr wie ein erzwungener Kurswechsel klingen. Merkels Problem: Der Inzidenzwert, lange zum wichtigsten Maßstab erklärt, sinkt derzeit kaum, pendelt sich bei 60 ein, die 35 ist in absehbarer Zeit nach Einschätzung der meisten Mediziner wohl nicht zu erreichen – die Hoffnungen, dass sich die Pläne der letzten Ministerpräsidentenkonferenz in absehbarer Zeit umsetzen lassen, gehen damit gegen null. Merkel will deshalb prüfen, „ob wir uns durch ein vermehrtes Testen auch mit diesen Selbsttests einen Puffer erarbeiten können, sodass wir in der Inzidenz etwas höher gehen können als 35“. Schon in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte sie Mitte der Woche gesagt: „Es ist richtig, jetzt zu klären, wie wir öffnen, wenn die Voraussetzungen dafür bestehen.“Einen Widerspruch sieht sie darin nicht. „Heute haben wir wegen der Impfstoffe und der Aussicht auf umfassende Testmöglichkeiten eine andere Lage als im letzten Jahr“, sagte die Kanzlerin. „Über grundsätzliche Abläufe, Priorisierungen und ein auch regional differenzierteres Vorgehen können wir deshalb sprechen.“Und doch steckt Merkel in der Klemme – überzeugt scheint sie von einem Abrücken des strengen Inzidenzwerts als Maßstab nicht. Denn eines macht sie deutlich: Schnell geht gar nichts.
Erst müssten ausreichend Testmöglichkeiten überhaupt vorhanden sein. „Und wir brauchen eine Klarheit, ob mit dem vermehrten Testen überhaupt der Anstieg der Infektionen gestoppt werden kann.“Dass sie selbst große Zweifel hat, verbirgt sie nicht. „Wir können nicht das Öffnen definieren und anschließend schauen, ob das Testen uns hilft.“Man werde weder auf eine Orientierung am Inzidenzwert verzichten, noch vorschnell öffnen können.
Helfen sollen also nun vor allem Schnelltests. Um die wird es auch beim Treffen am 3. März gehen. Möglichst bald sollen kostenlose Corona-tests unter anderem in Apotheken möglich sein; auch die gerade zugelassenen Selbsttests dürften schon bald in den Handel kommen. „Eine intelligente Öffnungsstrategie ist mit umfassenden Schnelltests, gleichsam als freitesten, untrennbar verbunden“, sagte Merkel der FAZ. Und noch einen Plan verfolgt sie: Das Land soll anhand von drei Strängen wieder geöffnet werden. Der erste Strang umfasst persönliche Kontaktbeschränkungen und Möglichkeiten, sich in bestimmten
Gruppen zu treffen. Beim zweiten Strang gehe es um Bildungsfragen – nach den Grundschulen öffnen die höheren Klassen, die weiterführenden Schulen, die Berufsschulen sowie die Universitäten. Der dritte Strang hat zu tun mit den Wirtschaftsfragen – Geschäfte, Restaurants sowie eines Tages Hotels. Merkel zählt dazu auch den Sport in Gruppen und kulturelle Veranstaltungen. Ihr Plan: Am besten könne man sich Pakete vornehmen, bei denen man nicht nur aus einem Strang etwas nehme, sondern wo man sinnvoll versuche, aus verschiedenen Lebensbereichen Dinge zusammenzuführen. Nach den einzelnen Öffnungsschritten müsse überprüft werden, dass man nicht in ein exponentielles Wachstum komme.
Ziemlich wahrscheinlich ist es zudem, dass die bundesweit einheitliche Linie weiter aufgeweicht wird. Dort, wo die Inzidenzwerte niedrig sind, werden weitergehende Zugeständnisse möglich sein als in Gegenden mit hohen Infektionszahlen. Auch der Gleichklang der Bundesländer wird kaum mehr zu halten sein – was schon ab Montag zu einer absurden Situation führen wird. Während im bayerischen Neu-ulm die Baumärkte öffnen, blieben sie im baden-württembergischen Ulm geschlossen. „Das versteht am Ende keiner mehr. Und dann gehen die Leute von der Fahne“, sagt der Oberbürgermeister von Ulm, Gunter Czisch (CDU). Schon im Frühjahr hatten unterschiedliche Regelungen zu Einkaufstourismus und Unmut bei Bürgern wie Händlern geführt.
Rückendeckung erhält die Politik von Frank Ulrich Montgomery. Der Chef des Weltärztebundes zählt eigentlich zur Gruppe der Vorsichtigen in der Pandemie, warnt regelmäßig vor schnellen Öffnungsschritten. Jetzt sagt er: „Die Nerven der Politik liegen nicht blank, sondern sie kommt endlich ihrer Pflicht nach, nicht nur Lockdown und Einschränkungen zu verhängen, sondern sich Gedanken über kluge Ausstiegsszenarien zu machen.“Und doch hält es auch der Mediziner eher mit der „Ja, aber“-methode von Merkel. „Einfach nur lockern bei steigenden Infektionszahlen wäre fahrlässig – auch wenn die Nerven vieler Menschen im Lockdown inzwischen blank liegen“, sagt Montgomery unserer Redaktion. Aber kluges Lockern könne funktionieren.
Sein Vorschlag: Jede Lockerung müsse von mindestens drei Maßnahmen flankiert werden: erstens dem konsequenten Impfen, zweitens einer guten Teststrategie und drittens dem konsequenten Überwachen der Neuinfektionen, um ein Wiederaufflackern der Infektion im Keim ersticken zu können. „Und daher macht es Sinn, jetzt in ambulante Selbsttest zu investieren“, sagt Montgomery. Dafür müsse aber gewährleistet sein, dass ausreichende Tests zur Verfügung stehen und diese Tests auch wirksam sind. Beides wurde gerade von der Politik versichert – schon bald sollen die Schnelltests in großer Zahl zur Verfügung stehen. Schwieriger könnte
Halten sich die Leute dann auch an das Testergebnis?
es in einem anderen Punkt werden: Indem sich die Politik auf Schnelltests verlässt, gibt sie die Verantwortung noch weiter in die Hand der Bürger. „Das kann problematisch werden – es appelliert stark an die Selbstverantwortung der Menschen“, sagt Montgomery. „Ein positives Testergebnis muss dem Gesundheitsamt mitgeteilt werden, muss mit einem PCR-TEST überprüft werden und führt zu häuslicher Isolation. Daran müssen die Leute sich halten.“
Auch Rki-präsident Lothar Wieler gießt Wasser in den Wein: „Selbsttests sind keine Wunderwaffe“, betont er. Sie seien eine Ergänzung zu den bisherigen Maßnahmen – aber keinesfalls ein Ersatz. Die Erwartung, dass man sich „freitesten“könne, sei nicht hundertprozentig zu erfüllen. Ein negatives Ergebnis sei eine Momentaufnahme und schließe eine Infektion nicht aus. „Man kann trotzdem infiziert sein und andere anstecken“, betonte er. Immerhin: Schnelltests seien durchaus ein Werkzeug bei der Eindämmung der Pandemie. Positiv sei, dass sie mehr Infektionen aufdecken würden. „Wir alle wollen unseren Alltag zurück“, sagt Wieler. „Das erreichen wir aber nur, wenn wir alle weiter gemeinsam an einem Strang ziehen und die Fallzahlen dauerhaft senken.“