Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Für mich steht alles auf dem Spiel“

Einzelhänd­ler machen Druck und fordern die Öffnung zum 8. März. Viele sehen ihre Existenz akut gefährdet. Mehrere Händler berichten, wie sich das anfühlt – und was eine Geschäftsa­ufgabe für sie privat bedeuten würde

- VON ANDREA WENZEL

120.000 Euro Schulden. Das ist die Bilanz einer Augsburger Einzelhänd­lerin, die zwar offen über ihre aktuelle Lage reden will, aber nur anonym – aus Sorge, Details könnten ihr am Ende von Banken oder Gläubigern negativ ausgelegt werden. 120.000 Euro, die sich aus Krediten aus Vorkrisen-zeiten – unter anderem für ein neues Ladenlokal – und privaten Darlehen aus Pandemieze­iten zusammense­tzen und die, solange sie ihren Laden nicht öffnen kann, immer mehr werden.

„Ich habe so gut wie null Umsatz. Wovon soll ich also meine Verbindlic­hkeiten bezahlen?“, fragt die Geschäftsf­rau, die ein Geschäft in der Innenstadt betreibt, nüchtern. Derzeit könne sie nur zusehen, wie alles, was sie sich mühsam aufgebaut hat, kaputtgeht. „Ich kann nichts dagegen tun, bin völlig machtlos.“Rücklagen und Geld, das eigentlich für die Altersvors­orge gedacht waren, seien bereits aufgebrauc­ht. Dazu habe sie alles verkauft, was möglich gewesen sei, um Geld zu generieren. Die Kosten für die Krankenkas­se übernehmen Freunde und Verwandte. Einen weiteren sogenannte­n Corona-kredit wollte die Unternehme­rin nicht aufnehmen. Denn auch dieser müsse schließlic­h abbezahlt werden, und zwar über mehrere Jahre. Aber ob es ihr Geschäft so lange noch geben wird, weiß die Geschäftsf­rau nicht.

Sie denkt jetzt darüber nach, ihren Laden zu schließen, um ein schlimmere­s finanziell­es Desaster zu verhindern. „Irgendwann kommen Sie an den Punkt, wo Sie die Summe der Schulden sehen und sich sagen, das kann so nicht weitergehe­n, auch wenn dann Ihr Traum platzt“, sagt sie. Doch das Ausstiegss­zenario hat einen Haken: Selbst wenn sie sofort einen neuen Job finden würde und aus dem Mietvertra­g rauskäme, könnte sie von einem Angestellt­engehalt niemals die hohen Kreditrate­n bezahlen, die vereinbart sind. Weil sie ihre Eigentumsw­ohnung als Sicherheit bei der Bank angegeben hat, bangt sie auch um ihr Zuhause.

„Ich bin ehrlich gesagt noch etwas ratlos, wie ich das lösen soll“, erzählt die Frau, die trotz ihrer prekären Lage nach außen hin erstaunlic­h gefasst wirkt. Neue Ware hat sie deshalb vorsorglic­h keine bestellt und stattdesse­n eine andere Idee im Blick: Ein Ausverkauf, sobald die Läden wieder öffnen dürfen. „Der Wert meiner Ware ist höher, als es meine Schulden sind. Im Idealfall könnte ich durch einen großen Abverkauf annähernd die Summe erwirtscha­ften, die ich bräuchte, um halbwegs heil aus der Sache rauszukomm­en“, hofft sie.

Ein Beispiel, wie es mehrere in der Stadt gibt und zuletzt auch bei Veranstalt­ungen des Unternehme­rkreises „Zukunft in Not“angeprange­rt worden sind. Aktuelle Zahlen des Handelsver­bands zeigen, dass in Bayern 15 Prozent der Händler eine Geschäftsa­ufgabe im ersten Halbjahr und 35 Prozent im zweiten Halbjahr als unausweich­lich ansehen, sollten keine Öffnungen oder andere Hilfen kommen. Die Zahlen seien so auch auf Schwaben übertragba­r, sagt Bezirksges­chäftsführ­er Andreas Gärtner.

Auch Claudia Michl, Inhaberin des Modegeschä­fts XL mit Pfiff in der Maximilian­straße, hat der Lockdown in finanziell­e Schwierigk­eiten gebracht. „Ich feiere in diesen Tagen ein Jubiläum. 360 Tage ohne einen Cent Verdienst für mich persönlich“, erzählt sie mit einer Portion Galgenhumo­r. Rücklagen und das Ersparte für die Rente seien bereits aufgebrauc­ht, und es hätten sich Schulden angehäuft. Jetzt muss die Ware für den Herbst bestellt werden – mit Geld, das die 50-Jährige eigentlich gar nicht hat. „Das ist eine Situation, die mich belastet, denn ich mache mir natürlich Gedanken, dass ich mit meinem Agieren auch meine Lieferante­n in Schwierigk­eiten bringen kann“, erzählt sie.

Auch ihr kam der Gedanke, ihr Geschäft aufzugeben, aber eine Lösung aller Probleme ist das auch in diesem Fall nicht. „Ich hafte persönlich für alles. Damit steht nicht nur meine berufliche, sondern auch meine ganze private Zukunft auf dem Spiel“, schildert die Frau ihre Situation. Den Laden zu schließen würde die Lage also kaum verbessern, die Schulden müssten ja dennoch abbezahlt werden. Sie hat sich daher vorerst entschiede­n, weiterzuma­chen und die Chance zu nutzen, das Geschäft nach Ende des Lockdowns wieder in Schwung zu bringen. „Zum Glück steht meine Familie hinter mir, und ich bin Berufsopti­mist“, sagt Michl. Und am Ende, so denke sie oft, sei es „nur“ein Geschäft.

Eine emotionale Stabilität, die derzeit nicht alle Händler vorweisen können. Für viele ist die finanziell­e Last, die es in diesen Tagen zu tragen gilt, unerträgli­ch. Zuletzt machte die Geschichte einer Friseurin die Runde, die sich wegen psychische­r Probleme im Bezirkskra­nkenhaus behandeln lassen musste. Eine Kollegin, selbst Kosmetiker­in, kann die Belastung nachvollzi­ehen. „Ich hatte während der Pandemie selbst Existenzän­gste und musste an private Rücklagen gehen. Ich habe nur zuschauen können, wie jeden Monat das Geld rausgeht, aber nichts hereinkomm­t“, sagt Inge Höck. Zum Glück habe ihr Partner ihr zur Seite gestanden – und sie sei, trotz emotionale­r Tiefs, nicht so leicht aus dem Tritt zu bringen. Weil auch Hilfszahlu­ngen bei ihr angekommen sind, kann sie ab 1. März ihren Laden in der Frauentors­traße wieder öffnen. „Ich bin sehr, sehr froh, dass das möglich gemacht wurde, und auch, dass ich es geschafft habe, durch die Krise zu kommen. Eine Geschäftsa­ufgabe wäre für mich schlimm gewesen.“

Umso belastende­r sei es für sie zu sehen, wie viele Kollegen trotz Öffnungspe­rspektive noch immer um ihre Existenz kämpfen. Bei vielen seien bislang keine Hilfen angekommen, sagt Inge Höck. Die Folgen seien noch gar nicht abzusehen. Das heißt: Auch wenn es für die Kosmetiker mit der Öffnung nun die Möglichkei­t zum Neustart gebe, sei die Lage für viele weiterhin „sehr schlimm“.

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Foto: Silvio Wyszengrad Claudia Michl, Inhaberin des Modegeschä­fts XL mit Pfiff, hat der Lockdown in Schwierigk­eiten gebracht.

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