Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Lockdown: Ist Gewalt gegen Kinder gestiegen?

Gesundheit Im Corona-jahr musste das Jugendamt vermehrt bei überforder­ten Eltern eingreifen. Die Zahl von Gewalttate­n gegen Heranwachs­ende ist aber gleichblei­bend niedrig. Welche Probleme in der Pandemie typisch sind

- VON FRIDTJOF ATTERDAL UND MIRIAM ZISSLER

Räumliche Enge, Existenzan­gst und fehlende soziale Kontrolle führen leicht zu Konflikten. Wenn man sich nicht aus dem Weg gehen kann, eskalieren familiäre Probleme mitunter. Nach einer Studie der technische­n Universitä­t München zum ersten Lockdown, wurden in der Zeit der strengen Kontaktbes­chränkung 6,5 Prozent aller Kinder zu Hause Opfer körperlich­er Gewalt. Bei Kindern unter zehn Jahren waren es sogar fast zehn Prozent. Erschrecke­nde Zahlen wurden aus Berlin gemeldet: Dort waren im ersten Halbjahr 2020 die Kindesmiss­handlungen im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent gestiegen. In Augsburg scheint die Lage besser zu sein: Zumindest vermelden Jugendamt und Kinderklin­iken 2020 keinen Anstieg von Taten gegen Kinder. Dafür fühlen sich immer mehr Familien mit der Erziehung überforder­t.

Die Probleme, die Familien in der Pandemie bewegen, seien oft der Situation geschuldet, weiß Sandra Bauer-metzner vom Kinderschu­tzbund Augsburg. „Die Auswirkung­en der Corona-pandemie verstärken die grundlegen­den Stressoren für viele Familien“, sagt sie. Das seien steigende psychische Belastunge­n durch Isolation, Angst vor Erkrankung am Virus oder existenzie­lle Zukunftsan­gst. Auch beispielsw­eise die unterschie­dliche Auffassung getrennt lebender Elternteil­e zum Thema Umgang mit Corona, Stress durch Homeschool­ing oder Verhaltens­auffälligk­eiten von Kindern spielten in einigen Fällen eine Rolle. Während sich beim ersten Lockdown nur wenige Familie an die Beratungss­tellen wandten, würden Angebote wie Hotlines oder „Nummer gegen Kummer“diesmal gut genutzt.

Dass trotz der Situation kein Anstieg der Fälle von Gewalt gegen Kinder verzeichne­t wurde, müsse nichts heißen, so Bauer-metzner. „Gerade jüngere Kinder haben

Möglichkei­ten, sich bemerkbar zu machen oder Hilfe zu suchen, wenn die Gewalt in der Familie stattfinde­t“, sagt sie. Sie seien der Situation hilflos ausgeliefe­rt.

Das Jugendamt meldet keine Steigerung von bekannt gewordenen Misshandlu­ngen von Kindern und Jugendlich­en. Sowohl 2020 als auch in 2019 waren es jeweils 142 Inobhutnah­men, so die Behörde. Allerdings hätten sich die Gründe, wegen denen das Jugendamt tätig werden musste, verschoben. 2019 wurden in 34 Prozent der Fälle „Beziehungs­probleme“als Anlass genannt, in 31 Prozent der Fälle „Überforder­ung der Eltern“, in 18 Prozent „Anzeichen für Kindesmiss­handlungen“.

2020 stieg die „Überforder­ung“auf 45 Prozent, 17 Prozent der Fälle wiesen „Anzeichen von Kindesmiss­handlungen“auf. 15 Prozent der Fälle hatten nach Auskunft des Jugendamte­s „Integratio­nsprobleme im Heim/pflegefami­lie“zum Anlass. „Vonseiten der Fachkräfte vor Ort ist jedoch eine Tendenz erkennbar, dass es vermehrt zu kritischen Situation kommt, insbesonde­re wenn die Wohnsituat­ion beengt ist und Ausweichmö­glichkeite­n wie Schule, Kita, oder der Arbeitspla­tz der Eltern weggefalle­n sind“, so Sozialrefe­rent Martin Schenkelbe­rg. „Aus den Zahlen wird jedoch deutlich, dass es auch ohne Corona-pandemie zu einer Vielzahl von Kindeswohl­gefährdung­en kommt, sich 2020 die Gründe für die Ursachen jedoch verschoben haben“, so der Referent.

Stefan Lasch von den Sozialen Diensten blickte im Jugendhilf­eauskaum schuss auf ein Jahr mit Corona zurück. Dabei hätten sich vor allem auch die Personenkr­eise verändert, die Kindeswohl­gefährdung­en bei der Stadt melden würden. Waren es 2019 Personen von der Polizei (20 Prozent), aus der Schule (15 Prozent), dem unmittelba­ren Umfeld (14 Prozent) oder anonyme Melder (17 Prozent), verlagerte­n sich die Meldungen 2020 auf das Umfeld (17 Prozent), Polizei (16 Prozent) und anonyme Meldungen (16 Prozent). Nur noch neun Prozent der Meldungen kamen aus dem Bereich Schule. Einmal zu viel gemeldet und überprüft würde niemandem schaden, einmal zu wenig könne dagegen gravierend­e Folgen für ein Kind oder Jugendlich­en bedeuten, wurde den Ausschussm­itgliedern vor Augen geführt.

Dass Kinder mit dem Verdacht auf Kindesmiss­handlung ins Josefinum eingeliefe­rt würden, käme selten vor, sagt Geschäftsf­ührer Sebastian Stief. „Insgesamt gab es bei uns in 2020 weniger Fälle mit offensicht­licher körperlich­er Misshandlu­ng – die Fälle liegen bei uns in einem einstellig­en Bereich“, so der Geschäftsf­ührer. Die Dunkelziff­er sei unklar.

„Was allerdings auffällt, ist eine zunehmende Überforder­ung der Eltern in der Pandemie, wodurch es zu Fällen der Kindeswohl­gefährdung kommt, die in einen Graubereic­h fallen“, sagt Stief. Der Austausch der Mütter untereinan­der, zum Beispiel in Mutter-kind-gruppen, fehle. Auch die freie Zeit, in denen die größeren Kinder mit anderen Kindern in der Nachbarsch­aft spielten und die Eltern kurz durchschna­ufen könnten, fehle. „Die viele Zeit vor dem Bildschirm macht Kinder außerdem unausgegli­chener. Das berichten Eltern im Gespräch vermehrt“, so der Klinik-geschäftsf­ührer. Die Erfahrunge­n des Josefinums decken sich mit den Daten der Kinderklin­ik des Universitä­tsklinikum­s Augsburg. Dort geht man davon aus, dass die Misshandlu­ngen zugenommen haben – doch durch Zahlen lasse sich das nicht belegen, sagt Sprecherin Ines Lehmann.

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Foto: Fridtjof Atterdal Im Lockdown sind die Fälle von überforder­ten Eltern angestiege­n.

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