Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Das Geschäft mit falschen Pflegeabrechnungen
In Augsburg hat ein Prozess gegen zwei Männer und drei Frauen begonnen. Die Pflegedienst-bande soll die Kassen mit Betrügereien um Millionen gebracht haben. Dabei gingen sie offenbar systematisch und skrupellos vor
Augsburg Einer der Ermittler sagte damals, es sei nur die Spitze des Eisbergs, die da aufgedeckt wurde. Er wolle sich nicht ausmalen, welche Geldsummen noch durch mutmaßlichen Pflegebetrug auf welchen Konten landen mögen. Im Fall eines mutmaßlich kriminellen Netzwerkes in der Pflegebranche, das auch in Augsburg aufgedeckt wurde, soll es sich jedenfalls um mehrere Millionen Euro handeln. Am Mittwoch hat ein erster Prozess gegen Verantwortliche des Pflegedienstes Fenix aus der Fuggerstadt vor dem Augsburger Landgericht begonnen. Angeklagt sind drei Frauen und zwei Männer, die mit falschen Abrechnungen rund sieben Jahre lang systematisch Pflege- und Krankenkassen in einem Umfang von rund 3,3 Millionen Euro betrogen haben sollen. Ihnen droht teilweise eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren.
Es handelt sich um das erste Verfahren nach umfangreichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I gegen Verantwortliche mehrerer Pflegedienste in München und Augsburg. Bei den Landgerichten in den beiden Städten liegen bereits weitere Anklagen, Termine für die Verhandlungen stehen allerdings noch nicht fest. Die beiden Staatsanwältinnen benötigen am ersten Prozesstag rund eineinhalb Stunden,
die umfangreiche Anklageschrift zu verlesen. Der Gerichtssaal ist allein mit den fünf Angeklagten und insgesamt 13 Anwälten gut gefüllt. Unter den Beschuldigten befindet sich ein Ehepaar, es gilt als Drahtzieher der offenbar kriminellen Bande. Für die Eheleute bedeutet der Prozess-start ein erstes Wiedersehen nach eineinhalb Jahren.
So lange nämlich sitzen die beiden schon in Untersuchungshaft. Ihr Wiedersehen vor Gericht fällt dafür bemerkenswert unterkühlt aus. Die 43 Jahre alte Julia L. würdigt den 49-jährigen Richard R. keines Blickes, der Ehemann gibt die Blickkontaktversuche bald auf. Spannend ist die Frage, ob sie sich im Laufe der Verhandlung gegenseitig belasten werden.
Am 23. Oktober 2019 hatte die groß angelegte Razzia in Augsburg und in anderen Städten bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Über 500 Polizisten durchkämmten damals 175 Geschäftsräume von Pflegeunternehmen in der Stadt sowie Wohnungen und Büros der Firmenchefs. Acht der rund 60 Pflegedienste in Augsburg wurden des Betrugs verdächtigt.
Unter anderem sollen Leistungen abgerechnet worden sein, die angeblich nie erbracht wurden. Das Waschen von Patienten beispielsweise, das Verabreichen von Medikamenten oder das An- und Auszievon Stützstrümpfen. In manchen Fällen sollen sogar offenkundig gesunde Menschen in Dokumenten als Pflegebedürftige eingetragen worden sein. Unter den vielen Verdächtigen befinden sich auch Mitarbeiter der Pflegedienste, bei den meisten aber handelt es sich um die Betreiber selbst. Die zuständige Staatsanwaltschaft München I hatte in den verschiedenen Komplexen insgesamt zwölf Menschen in U-haft nehmen lassen.
Jetzt, eineinhalb Jahre später, sitzen nur noch drei von ihnen hinter Gittern. Darunter ein 38-Jähriger. Er ist der mutmaßliche Hauptverantwortliche eines weiteren Betrugsfalles,
der demnächst vor Gericht verhandelt werden soll. Die Ermittler fanden in seiner Wohnung und in Schließfächern rund sieben Millionen Euro Bargeld. Nicht nur er, sondern auch das Ehepaar, das sich nun im aktuellen Prozess des Betrugskomplexes mit drei ehemaligen Kollegen vor Gericht verantworten muss, sitzt noch im Gefängnis.
Die 43-jährige Julia L. gilt als Hauptfigur in dem nun gestarteten Mammut-verfahren, für das bis Ende September über 60 Verhandum lungstermine angesetzt sind. Offiziell arbeitete die gebürtige Ukrainerin als Qualitätsbeauftragte bei dem Augsburger Pflegedienst, doch laut Anklage war sie die heimliche Chefin in dem Unternehmen, was sie offenbar bewusst verschleierte. Denn Julia L. war in der Vergangenheit bereits wegen Schwarzarbeit bei einem früheren und längst insolventen Pflegeunternehmen, das sie führte, zu einer Geldstrafe verurteilt worden.
Weil die Kassen sie deshalb nicht mehr als Leiterin eines neuen Pflegedienstes akzeptiert und keinen Vertrag mit der Firma abgeschlossen hätten, soll den Ermittlern zufolge zum Zeitpunkt der Firmengründung ein Strohmann als Geschäftsführer benannt worden sein. Ihr Ehemann Heiner K. hatte ebenfalls eine leitende Funktion. Das Ehepaar zog sich offenbar ein beträchtliches Monatsgehalt aus dem Dienst.
Mitangeklagt ist außerdem der Vater des formellen Geschäftsführers. Der 69-Jährige hatte offenbar von seinem Sohn eine Vollmacht für die Geschäfte erhalten. Außerdem stehen die offizielle Pflegedienstleiterin sowie eine Mitarbeiterin vor Gericht, die angeblich Patienten auf die Kontrollbesuche der Prüfer des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vorbereitet hatte, damit diese nichts verriehen ten. Laut der Anklage wurden Patienten und deren Angehörige teils aufgefordert, am Tag der Mdkprüfung nicht ans Telefon zu gehen oder eine Prüfung abzulehnen. Bei einer Patientin soll vor dem angekündigten Mdk-besuch erst die Pflegedokumentation verändert worden sein, dann habe ihr eine der Angeklagten das Beruhigungsmittel Tavor verabreicht. Die Dame sollte damit für die Dauer der Prüfung ruhiggestellt werden.
Bemerkenswert an dem Pflegeskandal ist, dass Patienten selbst und teils auch deren Angehörige offensichtlich zu Komplizen gemacht wurden. Für ihre Unterschriften für angeblich erbrachte Pflegeleistungen sollen sie monatliche Bargeldbeträge oder auch Leistungen in Form von Hausarbeit oder Fahrdiensten erhalten haben. Einem Patienten etwa sollen Mitarbeiter des Pflegedienstes morgens Brötchen und eine Zeitung vorbeigebracht haben. Der offenkundig groß angelegte Betrug hatte System. Ein System, das im Jahr 2019 allerdings aufflog.
Anbieter seriöser Pflegedienste befürchteten damals, nun unter Generalverdacht gestellt zu werden. Diese Angst könnte nun mit dem Start des ersten Prozesses in dem aufgedeckten Skandal wieder hochkommen. Denn die Fälle dürften die Justiz und die Öffentlichkeit noch lange beschäftigen.
Hauptfigur war schon wegen Schwarzarbeit verurteilt