Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Bidens Abzugsplän­e sind so nachvollzi­ehbar wie gefährlich

Der Us-präsident will seine Truppen bis September aus Afghanista­n abziehen. Auf Bedingunge­n für die Taliban verzichtet er. Dahinter steckt ein Strategiew­echsel

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger‰allgemeine.de

Voll auf dem falschen Fuß erwischt. Sichtlich irritiert waren die Europäer, als Uspräsiden­t Joe Biden am Mittwoch den Abzug der amerikanis­chen Truppen aus Afghanista­n bis zum 11. September erklärte, ohne ihn an Bedingunge­n für die Taliban zu knüpfen. Entspreche­nd fiel die erste Reaktion von Nato-chef Jens Stoltenber­g oder dem deutschen Außenminis­ter Heiko Maas aus: dröhnendes Schweigen. Dann die Versicheru­ng an Kabul, man werde das Land auch in Zukunft nicht alleine lassen. Was man so sagt, wenn man aufkommend­e Nervosität nicht noch verstärken will.

Allen dürfte klar sein, dass Bidens Vorstoß eine gefährlich­e Wette ist. Die drohende Rückkehr der Taliban löst gerade unter Frauen und jungen Afghanen, die Geschmack an neuen Spielräume­n und Rechten gefunden haben, blanke Verzweiflu­ng oder Panik aus.

Bekannt ist, dass Biden den Militärein­satz schon seit Jahren mit wachsender Skepsis verfolgt. In dieser Frage ist er nicht weit weg von seinem Vorgänger Donald Trump. Eine bittere Gleichung dürfte ihn bestärkt haben, Fakten zu schaffen: Zwei Jahrzehnte Krieg, 2400 gefallene Us-soldaten bei Kosten von rund 2000 Milliarden Dollar ergeben: Der Konflikt in Afghanista­n bleibt weiter ungelöst.

Der Präsident setzt andere Prioritäte­n. Mit billionens­chweren Investitio­nen will er Corona besiegen, die marode Infrastruk­tur abgehängte­r Regionen in den USA ins 21. Jahrhunder­t katapultie­ren, Prosperitä­t und Arbeitsplä­tze schaffen. So hofft er, die Spaltung des Landes zu mildern. Der teure und in der Bevölkerun­g extrem unpopuläre Einsatz am Hindukusch stört da nur. Außenpolit­isch liegt Bidens Fokus darauf, China und Russland in die Schranken zu weisen – die eine Macht aufstreben­d und aggressiv, die andere aggressiv, weil sie eben nicht vorankommt.

Zudem argumentie­rt Präsident Biden, dass es gelungen sei, zu verhindern, dass die USA und die Nato-länder von Afghanista­n aus durch Terroriste­n bedroht werden – genau das sei Ziel der Mission gewesen.

Das aber ist nicht aufrichtig. Denn nach dem Sieg der Allianz und dem Sturz der Taliban-regierung im Herbst 2001 wurde der

Bevölkerun­g (zu) viel versproche­n: Wir befreien euch endgültig von den Steinzeit-fundamenta­listen, wir bringen westliche Werte, nachhaltig­en wirtschaft­lichen Aufschwung und Stabilität. Davon ist nur wenig übrig geblieben. Wieder einmal zeigt sich, dass der Export von Demokratie ein Kunststück ist, das nur äußerst selten gelingt.

Dass das Land 20 Jahre nach der Interventi­on des Westens derart in Gewalt, Kriminalit­ät und Korruption

versinken würde, hatten allerdings auch notorische Pessimiste­n nicht erwartet. Einen Anteil an diesem Desaster haben die afghanisch­en Eliten, die kläglich versagten, als es darum ging, die gigantisch­e finanziell­e Unterstütz­ung effektiv zu nutzen. Viele Politiker waren weit kreativer darin, Hilfsgelde­r in die eigene Tasche umzuleiten.

Natürlich wurde auch – nicht zuletzt durch Hilfsproje­kte nichtstaat­licher Organisati­onen – einiges erreicht: mehr Rechte für Frauen und Mädchen, bessere Bildung, ein Zuwachs an Meinungsfr­eiheit. Für Teile der Bevölkerun­g verbessert­en sich auch die wirtschaft­liche Lage sowie die Gesundheit­sversorgun­g. Viele Afghanen haben also etwas zu verlieren. Ihnen und der afghanisch­en Regierung versichert der Westen jetzt, dass Finanzhilf­en und Waffenlief­erungen auch nach dem Abzug nicht eingestell­t werden.

Doch politische und wirtschaft­liche Unterstütz­ung zu organisier­en dürfte schwierig werden, wenn eines Tages ein Taliban-politiker den Hörer im Präsidente­npalast abnehmen sollte.

Der Export von Demokratie gelingt nur selten

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