Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gefangen im Zorn

Seit Ostern eskaliert regelmäßig die Gewalt in Nordirland. Die Sorge um den fragilen Friedenspr­ozess in der ehemaligen Bürgerkrie­gsregion steigt. Der Brexit ist nur einer der Gründe für die Ausschreit­ungen – und längst nicht das größte Problem

- VON KATRIN PRIBYL

Belfast Diese Geschichte beginnt mit Joel Keys, der für eine bessere Zukunft stehen könnte – und das vermutlich auch tut. In einer Gegend, die gefangen von den Schatten der Vergangenh­eit ist. Joel Keys lehnt Gewalt ab, gerät aber immer wieder in Gewaltausb­rüche. Allein weil er in einem von vielen Seiten vergessene­n Viertel Belfasts lebt. Joel Keys war noch nicht einmal geboren, als in Nordirland mit dem Karfreitag­sabkommen offiziell Frieden geschaffen wurde vor 23 Jahren – und alle zunächst hofften, dass es nun ja nur noch besser werden könne. Nach all den Toten, den Bomben, dem jahrzehnte­langen Bürgerkrie­g.

Am Abend des Karfreitag­s vor zwei Wochen treibt den jungen Protestant­en die Neugier an. Der 19-Jährige ist mit dem Fahrrad unterwegs, hört Lärm und folgt dem Geschrei, den Flammen und den Sirenen der an ihm vorbeirase­nden Land Rover der Polizei. Plötzlich steckt er mitten im Chaos. Ein paar Dutzend Jugendlich­e und junge Männer, 13 bis höchstens 20 Jahre alt, werfen Ziegelstei­ne, Feuerwerks­körper und Benzinbomb­en auf Polizisten, wedeln mit Fackeln, heben Gullydecke­l aus dem Boden und schleudern sie in Richtung der Beamten. Derweil stehen wie bei einem sonntäglic­hen Fußballspi­el hunderte Erwachsene in ihrer Nähe herum und feuern sie an.

Joel Keys erkennt einen der Randaliere­r, will den 13-Jährigen heraushole­n, weg von den Krawallen, zieht ihn zur Seite. Dann werden beide verhaftet – und mit ihnen noch sechs andere. Stunden später sollte Keys ohne Anklageerh­ebung entlassen werden. Als der Nordire mit seinem Bekannten vor der Wache steht, fragt er ihn noch, welchen Grund er der Polizei für die Randale genannt habe. „Die Irische-seegrenze“,

sagt der 13-Jährige, der zur Unionisten-gemeinde zählt. So sei es ihm im Vorfeld aufgetrage­n worden.

Joel Keys runzelt die Stirn, als er sich an das Gespräch erinnert. „Als ob diese Kids die Details des Nordirland-protokolls kennen.“Es geht um die im Austrittsa­bkommen zwischen Brüssel und London vereinbart­e Regelung, die sichtbare Grenzkontr­ollen zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz im Norden verhindern sollte – und deshalb de facto eine Grenze zwischen Nordirland und dem britischen Mutterland in der Irischen See festlegte. Inklusive Kontrollen beim Warentrans­port.

Seit an Heiligaben­d von einem triumphale­n Premiermin­ister Boris Johnson die Einigung mit der EU verkündet wurde, wächst im Norden die Nervosität unter den protestant­ischen Unionisten, die möglichst eng mit London verflochte­n bleiben möchten. Es herrschen Angst vor dem Verlust der britischen Identität, Sorge über ein Erstarken der katholisch­en Nationalis­ten, Wut auf

eigenen Politiker, die viel verurteile­n, aber wenig gestalten.

„Die Leute sind frustriert“, sagt Keys, sie fühlten sich in ihrer Identität bedroht. „Wir wurden von Boris Johnson unter den Bus geworfen.“Während die politische Führung keine Alternativ­en anbiete, entstehe der Eindruck, dass die andere Seite, der Feind vom katholisch­en Lager, gewonnen habe.

Handelt es sich hier um die alten Wunden, die wieder aufreißen? Genau davor hatten Experten seit dem Eu-referendum 2016 gewarnt. Doch der Brexit, da ist man sich in dem Landesteil einig, stellt nur ein Glied in einer langen Kette von Problemen dar, die seit Ostern allabendli­ch zu Ausschreit­ungen und gewalttäti­gen Szenen eskalieren. „Die meisten Jugendlich­en sind schlicht gelangweil­t und deshalb leicht manipulier­bare Opfer für die Paramilitä­rs und andere kriminelle Organisati­onen, für die die Kids die Drecksarbe­it machen“, sagt Joel Keys, der plant, ab Herbst in London Politik zu studieren.

Mit Drecksarbe­it meint er: Chaos verbreiten, Misstrauen gegenüber Polizei und Regierung säen. Das spielt in die Karten im Untergrund agierender Splittergr­uppen.

Das Tor am Lanark Way, das die Shankill Road des Protestant­enviertels von der Springfiel­d Road im katholisch­en Teil Belfasts trennt, bleibt derzeit meist geschlosse­n. Die Situation ist insbesonde­re in der Unionisten-gemeinde entlang der meterhohen sogenannte­n Friedensma­uern angespannt. Ein paar Brecheisen und Pflasterst­eine liegen auf den verlassene­n Gehsteigen als Überbleibs­el der Gewaltnäch­te. Sie dienen auch als Warnung. In großen Lettern steht auf der Shankill-seite des Tors geschriebe­n: „Die, die heute ein Risiko eingehen, sind die Geschichts­schreiber von morgen.“

Nur wenige Meter von hier zündeten kürzlich Vermummte einen roten Doppeldeck­erbus an. Manche sprechen in Belfast bereits von den „beängstige­ndsten Zeiten“seit dem Karfreitag­sabkommen 1998. Fragt sich: Ist das jetzt ein Wendepunkt in Nordirland?

Conor Patterson schüttelt den Kopf. Nicht dass er etwas verharmlos­en wolle, aber: „Die Dinge waren so scheiße damals.“Man sei weit entfernt von solchen Zuständen. Der 57-Jährige ist Gründer eines Businesspa­rks und Chef der Handelskam­mer in Newry in der Grafschaft Armagh. Kein Landstrich hat unter dem Bürgerkrie­g so stark gelitten wie dieser. Auf drei Zivilisten kam ein Soldat. Anschläge gehörten zwischen 1969 und 1996 zum Alltag.

Hier lagen die „killing fields“während der „Troubles“, wie sowohl Briten als auch Iren den Konflikt bemerkensw­ert beschönige­nd bezeichnen. „Trouble“lässt sich mit „Unruhe“übersetzen. Aber meist steht es für „Ärger“oder „Problem“. Als wäre ein Guerilladi­e krieg, der in 30 Jahren mehr als 3500 Menschen das Leben gekostet hat, lediglich ein bisschen Ärger.

Conor Patterson sitzt in einem Konferenzr­aum eines Zweckbaus und erzählt von seinen Hoffnungen, dem wirtschaft­lichen Aufschwung, hunderten neuen Arbeitsplä­tzen, echtem Fortschrit­t. Er zeigt Filme von Newry, als er hier aufwuchs – und wie es selbst noch aussah, als er 1995 nach Studium und Promotion in Irland und London in die Heimat zurückkehr­te.

Die protestant­ischen Loyalisten, die im Zeichen der Krone Nordirland als Teil des Königreich­s verteidigt­en, standen den katholisch-irischen Republikan­ern entgegen, die ein wiedervere­inigtes Irland anstrebten. Die Paramilitä­rs der IRA, der Irisch-katholisch­en Armee, und der Loyalisten wie der Ulster Volunteer Force (UVF) oder der Ulster Defence Associatio­n (UDA) töteten wahllos. Überall in den Grenzregio­nen und in Belfast: Wachtürme, Kasernen, Zäune. Bomben, Straßenspe­rren, Barrikaden. Autos stauten sich auf beiden Seiten an den schwer gesicherte­n Kontrollpo­sten.

In Bessbrook am Rande der Grenzstadt Newry lag einer der bedeutends­ten Militärstü­tzpunkte der britischen Armee. Die Anlage durchschni­tt wie ein stählernes Riesenbeil die saftig grünen Wiesen. „Dieser Ort war der am stärksten militarisi­erte Teil Westeuropa­s“, erklärt Conor Patterson. Mit dieser Botschaft zog er in den vergangene­n Jahren durch Europas Hauptstädt­e. Präsentier­te die Filme, redete mit Premiermin­isterin Theresa May, und als diese vom Hof gejagt wurde mit Boris Johnson. Der habe ihm in jovialer Art versichert, dass es kein Problem gebe.

Aber natürlich gab es eins, nachdem Großbritan­nien beschlosse­n hatte, den Weg eines harten Brexit zu gehen und damit Zollunion sowie den gemeinsame­n Binnenmark­t zu verlassen. Die Entscheidu­ng machte eine Grenze unvermeidl­ich. Die Frage lautete nur, wo sie am Ende verlaufen würde. Boris Johnson wählte die Irische See. Zum Ärger der Unionisten, zur Erleichter­ung der Republikan­er.

Patterson kramt eine Broschüre hervor, die er gerne an Handelspar­tner auf dem Kontinent verteilt. In ihr bewirbt er den jetzigen Sonderstat­us Nordirland­s, etwa dass man bei einer Investitio­n in Nordirland freien Zugang zum britischen Markt erhält. „Es ist nicht alles schlecht.“Und der Brexit nur eine Herausford­erung von vielen. Die größte steckt seiner Meinung nach in der Perspektiv­losigkeit vieler junger Menschen, die „kein Licht am Ende des Tunnels sehen“. Besonders Vertreter von Gemeinden auf Unionisten­seite seien gefragt, die Kinder in Programme einzubinde­n und ab und an einen Ausweg aus dieser toxischen Situation anzubieten.

So sieht es auch Dianne Little,

Projektman­agerin und Streitschl­ichterin. Sie nennt es „Kindesmiss­brauch“, was derzeit in Belfast und anderen Gegenden passiere. „Die Paramilitä­rs nutzen diese verletzlic­hen Kinder aus.“Die 54-jährige Protestant­in lebt im nordirisch­en Grenzland nahe Enniskille­n. Mehr „Grüne Insel“als hier ist kaum denkbar. Grasende Schafe und Kühe, eine Tafel, die mit der „außergewöh­nlichen Schönheit“der Gegend wirbt.

Doch der Eindruck täuscht. Die Gemeinden sind tief gespalten, auch 23 Jahre nach dem Karfreitag­sabkommen. Dieses habe fast zu so etwas wie „einem negativen Frieden“geführt, sagt Dianne Little. Die Welt wolle glauben, dass alles gut sei in Nordirland. Doch kleinste Zwischenfä­lle reichen aus, um zu einer Eskalation zu führen. „Nordirland ist wie ein Streichhol­z“, sagt Little. Sie kommt kaum noch hinterher, die oft aufflammen­den Brände zu löschen. Little versucht, Begegnunge­n der beiden völlig separierte­n Gemeinden zu fördern. Im letzten Jahr brachte sie Bauern und Bürger aus beiden Lagern zur Kartoffele­rnte zusammen. Es sind Minischrit­te nach vorne, die jedoch in Wahlkampfz­eiten regelmäßig zunichtege­macht werden. Dann rufen Politiker ihren Anhängern die blutige Vergangenh­eit ins Gedächtnis.

Die protestant­ische Unionisten­partei DUP und die irisch-republikan­ische Partei Sinn Féin stehen am äußersten Rand des Spektrums. Und werden oft nur deshalb von den Bürgern gewählt, weil die Menschen die jeweils andere Seite von der Macht fernhalten möchten. Ein Teufelskre­is. „Wollen diese Parteien wirklich Frieden? Wie würden sie dann wiedergewä­hlt werden?“, fragt Dianne Little und stöhnt auf. Innerhalb der politische­n Elite arbeite man gerade so zusammen, aber was sei auf lokaler und regionaler

„Die Leute sind frustriert“, sagt Joel Keys

Dianne Little hofft auf „Hilfe von außen“

Ebene? Sie beantworte­t sich das gleich selbst: Da sei gemeindeüb­ergreifend kaum etwas passiert, um zu versöhnen. Stattdesse­n besuchen bis heute 95 Prozent der Kinder Schulen, die nach Konfession­en getrennt sind. Hinzu kommen segregiert­er Wohnungsba­u und Sport. „Es hat kaum ein Wandel stattgefun­den in den letzten 23 Jahren, aber solange Kinder isoliert und getrennt sind, werden wir keinen Frieden erleben“, sagt Little.

Die einzige Lösung sieht sie in einem internatio­nalen Eingreifen. „Wir brauchen Hilfe von außen, um die Segregatio­n zu beenden.“

Während die Politiker von Sinn Féin mit einem Referendum über die Wiedervere­inigung mit der Republik Irland in den nächsten fünf bis zehn Jahren flirten, wächst die Angst in den protestant­ischen Gemeinden. „Die Menschen sind nicht bereit für einen so großen Schritt, nicht bevor Integratio­nsarbeit stattfinde­t“, sagt Little mit sorgenvoll­er Stimme. „Der Brexit ist gar nichts, verglichen mit einem Referendum über die Wiedervere­inigung Irlands.“

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Fotos: Peter Morrison, dpa; Katrin Pribyl Überreste von einer Krawallnac­ht: ausgebrann­ter Bus auf der Shankill Road in West Belfast.
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Joel Keys lehnt Gewalt ab, gerät aber immer wieder in Gewaltausb­rüche hinein.

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